Spannendes Thema...
Herr Vorragend hat geschrieben:
Wir predigen "Demokratie" als vermeintliches Allheilmittel und beste Regierungsform überhaupt (so sehr, dass jeder öffentliche Zweifel daran in unserer Gesellschaft als nicht hinnehmbarer Tabubruch gelten würde) - dabei glauben wir in Wahrheit gar nicht wirklich daran.
Mir stellt sich da zuerst mal eine banal klingende Frage: Was ist die Alternative? Klar ist "geringstes Übel" immer ein schwaches Argument, aber gerade was die Demokratie angeht - was wäre denn die Alternative? Dass Anarchie nicht funktionieren kann, dürfe Konsens sein. Wenn also weder das Volk, noch gar keiner regiert - regiert einer bzw. eine (ohne Wahlen dann nicht legitimierte) Gruppe. Es liefe also letztendlich auf eine Diktatur raus. Da ist mir eine Demokratie dann trotz mancher Unzulänglichkeiten wesentlich lieber. So gesehen sehe ich zwar auch Verbesserungspotential - glaube aber auf jeden Fall an die Demokratie.
Herr Vorragend hat geschrieben: Es sind weiss Gott nicht nur Politiker & Co., die vehement gegen jedes mehr an Demokratie sind (also z.B. Volksabstimmungen, direktdemokratische Entscheidungen etc.), es scheint mir sogar eher der Durchschnittsbürger zu sein, der sich eigentlich gar nicht mehr direkten politischen Einfluss wünscht, und nur allzu gerne die 1-2 beliebten Totschlagsargumente nachplappert ("da würde schon morgen die Todesstrafe wiedereingeführt werden!"). Im Grunde scheint mir die Argumentation dann normalerweise darauf hinauszulaufen, dass es einfach viel zu viele Dumme da draussen gibt, die dann "falsch" abstimmen und schlimme Fehlentscheidungen treffen würden.
So abwegig finde ich diese Argumente nicht. Klar, das Thema Todesstrafe ist natürlich das extremste Argument, das man anführen kann. Aber ganz allgemein gesprochen: Wenn ich mir die Entwicklung der letzten Jahre anschaue, egal ob aktuell der enorme Rechts-Ruck oder einfach ganz allgemein die immer schneller aufkommende Hysterie in sozialen Netzwerken, aber auch Medien, Nachrichten, öffentlicher Diskussion - da habe ich schon meine Bedenken, was direkte Demokratie angeht. Es gibt immer weniger sachliche, in Ruhe geführte Diskussionen, jede Äußerung wird umgehend in die schwarze oder die weiße Schublade einsortiert, es werden, egal wie komplex ein Thema ist, allumfassende Lösungen und Aufklärungen spätestens in gefühlten 3 Tagen gefordert, ein echtes Interesse an Argumenten und einer echten inhaltlichen Auseinandersetzung besteht oft nicht - ich weiß nicht, ob ich Entscheidungen möchte, die auf so einer Grundlage getroffen werden...
Herr Vorragend hat geschrieben:Nun mag an diesem Argument tatsächlich etwas dran sein, vielleicht sogar weit mehr als nur ein Funke Wahrheit. AAABER, nun die grosse Quizfrage:
Wenn wir den Durschnittsdeutschen für direkte Demokratie nicht für mündig genug halten, selbst politische Entscheidungen zu treffen - warum sollte dann ausgerechnet eine repräsentative Demokratie dieses Problem lösen? Ich meine, wenn wir nicht mündig genug sind, die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen - warum sollten wir dann ausgerechnet mündig sein, die richtigen Repräsentanten zu wählen, die an unserer statt diese richtigen Entscheidungen treffen?
Weil es ja gerade (zumindest in der Theorie) Sinn der Sache ist, die Entscheidungen an Leute zu delegieren, die eben diese Kompetenz haben. Die sich eben hauptberuflich mit den Themen beschäftigen, die wir nur (wenn überhaupt) aus der Tageszeitung und der Tagesschau kennen. Weil jemand mit der entsprechenden Praxiserfahrung in einem bestimmten gebiet sicher besser weiß, was für Änderungen da sinnvoll wären als jemand, der nur mal gehört hat, dass es da ein Problem gibt, von den tatsächlichen Gegebenheiten aber faktisch keine Ahnung hat.
baumarktpflanze hat geschrieben:
die Möglichkeiten, in Deutschland politisch mitzumachen, sind riesig, sie werden nur kaum benutzt. Oder hat jemand von uns mal eine Petition beim Bundestag gestellt? In der Sprechstunde beim Wahlkreisabgeordneten gewesen? Die Gemeinderatsversammlung besucht? Lieber empören wir uns dann auf Portalen wie abgeordnetenwatch.de und wollen dort mehr Beteiligung. Das ist ziemlich albern.
Das sehe ich auch so. Wenn ich allein in meiner Umgebung schaue: Es gab vor ewigen Zeiten bei uns eine Abstimmung darüber, ob man die alte, marode Stadthalle durch einen riesigen, potthässlichen und schweineteuren Klotz (merkt man, wohin ich tendiert habe...?

) ersetzen soll. Es war absehbar, dass die Kosten explodieren würden und die Vorteile schöngeredet wurden. Es hat auch die Mehrheit dagegen gestimmt - aber es haben nicht genug abgestimmt, so dass der Klotz jetzt trotzdem steht

In einer Gemeinde ein paar Kilometer von mir weg haben die Bürger am letzten Wochenende über eine Brücke in die Nachbarstadt in der Schweiz abgestimmt - es gab einige Argumente dagegen, von den Befürwortern hab ich eigentlich nicht viel mehr gehört als "Verbindung ist immer schön <3" - und auch hier: Mehrheit dagegen, aber nicht genug, die sich beteiligt haben.
Da fragt man sich dann schon, wo die Leute das Recht her nehmen, sich über mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten zu beklagen, wenn die Möglichkeiten, die man hat, so völlig ignoriert werden.
Kunstbanause hat geschrieben:
Im Grunde sehe ich es ähnlich wie baumarktpflanze. Vielleicht sollten Bürger vorher einen IQ-Test machen, bei dem ein IQ über 110 Mindestvoraussetzung ist, um eine Mitentscheidungsbefugnis erteilt zu bekommen.
Ich glaube, das Problem ist oft weniger der geringe IQ, als viel mehr die mangelnde Information. Natürlich muss man von dem Bürger, der sich für total mündig hält und mitentscheiden will, auch eine gewisse Eigeninitiative erwarten. Aber es ist halt nun mal zum einen so, dass inzwischen auch seriöse Medien immer schneller auf den Hysterie-Zug aufspringen und oft das sachliche schleifen lassen, und zum anderen ist vieles auch wirklich kaum noch zu durchblicken. Also IQ-technisch dürfte ich nach dieser Idee wählen, und politisch interessiert und halbwegs informiert bin ich auch - aber bei Themen wie Bankenrettung, Zusammenhänge in der Griechenlandkrise, weltweite Börsen etc steig ich teilweise auch intellektuell aus. Wie soll da erst jemand, der aus welchen Gründen auch immer noch weniger Einblick hat, fundierte Entscheidungen treffen können? Das ist einer der größten Vorwürfe, die ich "den Politikern" (ist natürlich genauso falsch wie jede andere Pauschalisierung) mache: Sie schwurbeln, sie manipulieren oft auch, sie drücken sich extrem hochgestochen und mit so wenig Inhalt wie möglich aus, statt wirklich mal eine Sprache zu benutzen, die auch Lieschen Müller versteht. Und da sehe ich eine große Chance von mehr direkter Demokratie: Wenn man zu einem bestimmten Ergebnis kommen will, dafür aber nicht nur ein paar Nasen in einem Parlament, sondern eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugen muss, ist man gezwungen, auf das, was die Leute beschäftigt und was sie sagen, tatsächlich einzugehen und so mit ihnen zu reden, dass sie auch wirklich verstehen, was man von ihnen will und vor allem was das ihnen bringen soll.
Herr Vorragend hat geschrieben:
Aber diese Möglichkeiten haben strenggenommen nichts mit Demokratie zu tun, bei der das Volk als Ganzes politischen Macht ausüben kann. Stattdessen laufen solche Sachen, genau wie Bürgerinitiativen etc. in der Praxis normalerweise eben darauf hinaus, dass sich eine verschwindent kleine Minderheit der Bevölkerung lautstarken Einfluss für persönliche Anliegen sichern kann.
Doch, es sind schon Möglichkeiten, wie das Volk Macht ausüben KANN. Aber das "kann" ist eben genau das Problem, wenn sich kaum jemand beteiligt. Das ist ja aber weniger ein Fehler der Beteiligungsinstrumente, als ein Fehler derer, die sie nicht nutzen. Wenn man aus der Tatsache, dass sich nur wenige beteiligen, schließt, dass diese Instumente "nichts mit Demokratie zu tun" haben, muss man ja konsequenterweise eigentlich eine Wahlpflicht fordern. Das ist doch die einzige Möglichkeit, wie man systemimmanent und nicht von äußeren Umständen abhängig dafür sorgen könnte, dass das Volk diese ihm gegebene Macht auch ausübt.
Die Wahlpflicht ist allerdings ein Konzept, zu dem ich nicht wirklich eine abschließende Meinung habe.
Herr Vorragend hat geschrieben:
So Dinge wie Abgeordnetensprechstunden, Bürgerversammlungen z.B. können letztlich ja auch nur dann funktionieren, wenn sie nur nur von einer kleinen Minderheit aktiv genutzt werden. Um es mit mit einer Anleihe bei Volker Pispers zu sagen: Zu bspw. einer Abgeordnetensprechstunde kann zwar jeder gehen und gehört werden - aber eben nicht alle. Wenn sich da plötzlich 20000 Menschen persönlich Gehör verschaffen wollten, würde das nicht funktionieren.
Doch, es können alle hingehen. Theoretisch. Würde das alle tun, hätte man natürlich ein Problem. Dann wäre man aber gezwungen, sich aktiv mit dem Thema zu beschäftigen und zusätzliche Möglichkeiten zu schaffen. Ein Instrument von vorne rein als quasi untauglich zu sehen, nur weil es bei massiver Beteiligung ein logistisches Problem bekommen würde, wenn genau dieses theoretische Problem praktisch gar nicht vorhanden ist, ist mir irgendwie zu negativ. Es ist eine zusätzliche Möglichkeit, Anliegen anzubringen, und das finde ich gut und wichtig.
Herr Vorragend hat geschrieben:Die Leute nutzen es nicht, weil die meisten doch relativ realistisch einschätzen, dass es in der Regel schlicht den Aufwand nicht wert wäre.
Auch hier: Es ist den Aufwand doch in erster Linie "nicht wert", weil es so wenig genutzt wird. Ich glaube, da werden oft Ursache und Wirkung verwechselt. Würden viele diese Möglichkeiten nutzen, wäre auch der öffentliche Druck auf die Politiker höher, sich mit den Petitionen zu beschäftigen und die Ergebnisse den Bürgern zu vermitteln.
baumarktpflanze hat geschrieben:Beteiligung in der Demokratie bedeutet ja eben nicht, dass das, was ich jetzt sage, auch so gemacht wird, sondern es bedeutet, dass ich etwas sagen kann und das Recht habe, mit meinem Argument gehört zu werden, ich aber gleichwohl auch hinnehmen muss, wenn mein Argument am Ende eben von den Anderen als nicht so bedeutend / falsch / nicht sehr stark gewichtend eingestuft wird. Ich muss also bereit sein, Kompromisse einzugehen oder auch mal einen Entschluss akzeptieren, der mir nicht gefällt. Aber gerade da entsteht auch viel Politikverdrossenheit! ("Die machen doch eh, was sie wollen!")
Und genau diese Kompromisse lassen sich oft besser vermitteln, wenn über genau diesen Punkt konkret abgestimmt wurde. Das sieht man ja eigentlich gerade sehr schön an Stuttgart 21: Auch wenn ich grundsätzlich immernoch der Meinung bin, dass das, was da läuft, grundverkehrt ist - die allgemeinen Proteste haben enorm nachgelassen und es gibt eine gewisse Akzeptenz. Vor der Abstimmung über S21 gab es riesige Demos etc. Hätte die Regierung das Projekt trotzdem durchgezogen, hätte man damit genau dieses "die machen ja eh, was sie wollen" bestärkt. So hat man letztendlich auch, was man will (aus Sicht der Mehrheit der Politiker), kann sich aber auch noch auf eine zusätzliche demokratische Legitimation dafür berufen.
Ähm, ja... Viel Durcheinander...

Also mein Fazit ist, dass die Demokratie grundsätzlich das beste System ist, aber innerhalb dieses Systems durchaus noch Verbesserungspotential vorhanden ist.
Direkte Demokratie - in gewissen Teilbereichen gerne, aber nicht für das "große Ganze". Allerdings sehe ich, damit das funktioniert, auf beiden Seiten eine Bringschuld: Der Wähler, der ernst genommen werden will und mitbestimmen will, muss auch bereit sein, mehr zu tun als nur über die bösen Politiker zu meckern, muss Informationsmöglichkeiten nutzen, Ideen einbringen - und letztendlich vor allem auch den Hintern hoch kriegen und auch abstimmen, wenn er die Gelegenheit hat. Und die Politik muss für Sachlichkeit in Debatten sorgen, verständlich (!!) informieren, mit den Leuten reden und nicht um Machtpositionen, sondern um Inhalte kämpfen (soviel zum Thema "Idealvorstellung"

).