Commis Roman "Auf der anderen Seite" - !!!(KAPITEL 3)!!!
Verfasst: Di 12. Okt 2010, 14:38
von Commi
Hallo Ihr Lieben!
An dieser Stelle werd ich in unregelmäßigen Abständen Kapitel aus meinem Roman posten. Am Ende jedes Kapitels stehen Lesegruppenfragen und ich würd mich sehr freuen, wenn ihr mir diese beantwortet.
In Kapitel 1 lernten wir Philipp kennen, einen Studenten, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, der nun von zwei ziemlich unsympthischen Polizisten vollstreckt wird.
In Kapitel 2 verfolgen wir Philipps Aufnahmeprozedur im Polizeipräsidium.
An dieser Stelle werd ich in unregelmäßigen Abständen Kapitel aus meinem Roman posten. Am Ende jedes Kapitels stehen Lesegruppenfragen und ich würd mich sehr freuen, wenn ihr mir diese beantwortet.
In Kapitel 1 lernten wir Philipp kennen, einen Studenten, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, der nun von zwei ziemlich unsympthischen Polizisten vollstreckt wird.
versteckter Inhalt:
Ich heiße Philipp und bin 27 Jahre alt.
Ich habe dunkelblonde Haare, blaue Augen, bin mittelgroß und mittelschlank.
Ich komme aus einem guten Elternhaus. Einem sehr guten sogar. Mein Vater ist Direktor eines Gymnasiums, meine Mutter Fremdsprachenkorrespondentin.
Ich bin eingeschrieben an der Universität in Dortmund, Lehramt.
Ich werde irgendwann in die Fußstapfen meines Vaters treten, das ist der Plan.
Ich komme mit meinem Studium gut voran, mittlerweile.
Ich habe selbstverständlich Partys gefeiert, Vorlesungen geschmissen, Prüfungen verhauen. Was man halt so macht.
Ich habe nicht viele Freunde, dafür sehr gute.
Ich habe viele Bekanntschaften, dafür sehr oberflächliche.
Ich habe einen festen Freund. „Ich bin schwul und das ist auch gut so“, nicht wahr?
Ich habe einen Nebenjob, der mir Spaß macht.
Ich verdiene genug Geld, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, kann aber nicht damit umgehen.
Ich trinke gerne eiskalte Cola und habe eine ungesunde Vorliebe für Fast Food.
Ich lese viel, am liebsten Krimis.
Ich höre gerne Musik, am liebsten laute.
Ich mag Fußball.
Ich habe eine schicke Wohnung, groß genug, um sie alleine stressfrei sauberhalten zu können.
Ich bin im Grunde recht normal und dabei ziemlich glücklich.
Ich bin zur Zeit Häftling der JVA Castrop-Rauxel.
Sie haben mich abgeholt, als ich aus der Dusche kam. Es war an einem Donnerstag Ende Oktober, kurz nach der 20 Uhr-Tagesschau.
Ich hörte die Klingel schon, als ich unter der Dusche stand. Normalerweise hätte ich dem keine Beachtung geschenkt, aber meine Klingel ist schrill und laut und ich wollte nur, dass es aufhört. Nur, dass Sie Sich das besser vorstellen können: meine Klingel hört sich genauso ekelhaft schrill und laut an, wie alle Klingeln in deutschen Fernsehfilmen.
Als ich das Wasser abdrehte, hörte ich sie klopfen. Und rufen. „Herr Stenzel?“ Ich brüllte zurück, dass ich ja schon käme. Schnell, sehr notdürftig trocknete ich mich ab und band mir das Handtuch um die Hüften.
Vor mir standen zwei Polizisten, beide hielten ihre Ausweise hoch, oder was immer Polizisten so hochhalten. Ich hab da nicht so genau drauf geachtet. Zumindest sahen sie aus wie Polizisten. Leider redeten sie auch so. Also – sie sagten das, was Polizisten halt so sagen, wenn sie nicht bloß einen Kaffee bei dir trinken wollen.
„Herr Stenzel?“ Der Polizist war größer und viel breiter als ich, guckte angestrengt grimmig und trat schon mal ein. Ich machte keine Anstalten, etwas zu sagen, ich war zu konsterniert und nahm außerdem sowieso an, er hätte wohl jedes Recht, einfach so meine Wohnung zu betreten.
„Herr Stenzel, gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor. Ziehen Sie Sich was über.“ Der Polizist ging meinen Flur entlang, öffnete erst die Tür zur Küche, dann zum Schlafzimmer. „Na los jetzt.“
Ich hatte keine Chance. Was hätte ich machen oder sagen sollen? Ich wusste von dem Haftbefehl. Formell war sicher alles in Ordnung, aber sonst eben nicht. Das war nun aber bestimmt nicht die Zeit, mit den beiden Herren darüber zu diskutieren. Sie sahen auch nicht aus, als wollten sie diskutieren.
Ich folgte dem größeren der Polizisten in mein Schlafzimmer, der andere kam hinterher, ein kleiner, hagerer Mann mit schütteren Haaren, den ich auf eine merkwürdige Weise noch unsympathischer fand als seinen Kollegen. Der machte schon meinen Kleiderschrank auf, holte eine helle Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt raus. „Anziehen. Schuhe sind im Flur?“ Ich stotterte eine Bestätigung. „Ist sonst noch jemand in der Wohnung?“ Ich schüttelte den Kopf. Nur nicht zuviel reden.
„Wir waren heute früh schon mal hier.“ Ich hielt an meiner schweigsamen Strategie fest. Ich war am Vormittag nicht dagewesen, aber hätte ich gewusst, dass man mir das jetzt zum Vorwurf macht, hätte ich vielleicht doch lieber entsprechendes angedeutet.
„Sie haben absichtlich nicht geöffnet, was?“ – „Sie wollten wohl der Verhaftung entgehen?“ Das war der andere.
Ja, verdammt nochmal, am liebsten wäre es mir tatsächlich gewesen, ich hätte der Verhaftung entgehen können. Na gut, die Chance war da. Wie gesagt: der Stellungsbefehl zur JVA Castrop-Rauxel lag auf meinem Schreibtisch. Kam zwei Wochen vorher an, ungefähr. Aber da ich ja erstens unschuldig, zweitens schluderig und faul und drittens ein Verdrängungskünstler bin, hab ich dem keine Beachtung geschenkt. Wie bitte? Ich hätte einen Anwalt einschalten können? Ja, hab ich ja. Nur zu spät. Als der Stellungsbefehl längst raus, die Sache hochoffiziell war. Was? Ich hätte doch vorher schon was machen können, so eine Verhaftung mit allem Drum und Dran kommt ja nicht aus dem blauen Dunst heraus? Ja, Mann, hinterher ist man immer schlauer.
Ich war angezogen und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel im Schrank. Ja, doch, ich sah jetzt wirklich aus wie ein Verbrecher. Haare strubbelig, unrasiert, auf dem Shirt das Wahrzeichen des FC St. Pauli, der Totenkopf. So hätte man mich theoretisch auch auf der Straße festnehmen können, irgendwo in der Nähe des Jungenstrichs am Hauptbahnhof. Immerhin war ich frisch geduscht. Der kleine Hagere holte Handschellen aus seiner Jacke. Was zum Teufel? Der andere drehte mich mit dem Körper zur Wand, ich stützte mich an ihr ab, während er mich abtastete. Was sollte das denn nun noch? Er war doch die ganze Zeit dabei, als ich mich anzog.
Die Handschellen klickten und stachen schon nach wenigen Momenten unangenehm in die Haut. Der Hagere führte mich am linken Arm in den Flur, der Breite inspizierte noch schnell das Wohnzimmer und das Bad. Er kam in den Flur, als ich grad in meine weißen Turnschuhe schlüpfte. „Portemonnaie, Schlüssel?“ Ich sagte ihm, wo er alles finden konnte und er nahm die Sachen an sich, der Hagere wandte sich mit mir zum Gehen. „Schauen Sie Sich nochmal kurz um, Sie werden ihre Wohnung während der Haft ja vermutlich verlieren.“ Der Andere grinste zur Bestätigung: „Ja, acht Monate können lang werden.“ Sehr komisch.
Als wir durchs Treppenhaus gingen, standen vereinzelt Nachbarn an den Wohnungstüren, draußen vor dem Haus parkte ein Polizeiwagen. Ich saß hinter dem Beifahrersitz, der Breite neben mir. Vor dem Einsteigen sprach er ins Funkgerät: „Freiwald hier. Wir haben Herrn Stenzel verhaftet.“ Zu seinem Kollegen am Steuer sagte er: „Und los geht´s.“ Dabei lachte er. Der Hagere drehte sich zu mir um: „Sie haben uns soviel Ärger gemacht, jetzt machen wir Ihnen Ärger.“ Es klang wie ein Versprechen.
Wir fuhren durch die Dortmunder City, die noch immer voller Menschen war, in Richtung Polizeipräsidium. Die Fahrt dauert im Normalfall zehn Minuten, so auch an diesem Abend, aber das war für meine Polizisten gerade lang genug, um mich weiter zu erniedrigen. Keine Ahnung, woher sie das konnten. Aus dem Stegreif kam das jedenfalls nicht. Sie hatten sich das entweder lange vorher überlegt oder schon an anderen armen Würstchen erfolgreich erprobt. Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht auch gar nicht so erniedrigend. Aber bedenken Sie bitte, dass ich mich auch in einer Ausnahmesituation befand. Okay, einer selbstverschuldeten. Aber da ist man schonmal empfindlicher.
Ich blickte die gesamte Fahrt über angestrengt nach draußen. Meine Sitzhaltung war unangenehm, die Jogginghose rutschte etwas. Bequemer ging grad nicht, den Handschellen sei Dank. Zu allem Überfluss hatte Freiwald, so hieß er wohl, mir den Sicherheitsgurt auch noch irgendwie genau so angelegt, dass ich mich nichtmal ansatzweise in eine angenehmere Sitzposition bringen konnte.
Erst an der Baustelle zum Dortmunder „U“, dem Wahrzeichen der ehemaligen Unions-Brauerei, fing Freiwald an, mich zu belehren. Er schloss mit der Frage, ob ich wisse, warum ich verhaftet worden sei. Natürlich wusste ich das. (Ihr seid vermutlich schon etwas neugierig. Versteh ich. Aber ich spar mir das noch etwas auf. Ich werde dann aber auch ganz offen und ehrlich zu Ihnen sein. Sie werden gleich, wenn Sie weiterlesen, erfahren, wie es für mich im Gefängnis war. Tiefer sinken geht nicht. Was für einen Grund hätte ich also noch, zu lügen oder nur einen Teil der Wahrheit zu offenbaren? Sehen Sie!)
Ob ich meinen Anwalt sehen wolle, fragte Freiwald. Pff, welchen Anwalt? Sagte ich so natürlich nicht. Ich bin ja nicht blöd. Ich verfolgte weiter die Taktik, möglichst wenig zu reden.
„Möchten Sie jemanden über Ihre Verhaftung in Kenntnis setzen?“ Gute Frage. Über die Antwort dachte ich nicht lange nach. Meine Eltern wussten von nichts, meine Schwester nicht, mein Freund nicht. Wen sollte ich anrufen? Obwohl: jetzt mit jemandem reden könnte durchaus befreiend sein. Also, nicht im eigentlichen Wortsinn. Nur seelisch. Sie verstehen?
„Ja, ich würde gerne meine Eltern anrufen.“ Die würden aus allen Wolken fallen. Freiwald beugte sich nach einer kurzen Pause lächelnd nach vorne.
„Hast du was gehört?“
„Ich hab verstanden, dass Herr Stenzel niemanden anrufen möchte.“
„Ja, ich auch“, ließ sich Freiwald wieder zurück in seinen Sitz sinken. Seine Sitzhaltung hatte irgendwie was obszönes, meinte ich aus den Augenwinkeln wahrzunehmen.
Ähm, Moment mal. Was sollte das eben überhaupt?
„Ich möchte meine Eltern benachrichtigen“, wiederholte ich.
„Ja, ich möchte auch so viel“, seufzte Freiwald lachend. „Anrufe sind heute leider nicht gestattet.“ Als er das sagte, haute er seinem Kollegen auf die Schuler. Sollte ich jetzt noch reagieren? Wurde das von mir erwartet? Ich beschloss, lieber zu schweigen. Die beiden hatten mich irgendwie in der Hand.
Aber sie waren noch nicht am Ende.
„Der Form halber, Herr Stenzel, wir müssen eine erkennungsdienstliche Untersuchung vornehmen. Sind Sie damit einverstanden?“
Untersuchung, was?
„Was ist das?“
„Fingerabdrücke. Ein paar Fotos.“
Solche Fotos kannte ich aus dem Fernsehen. Die Häftlinge hielten alle ein schwarzes Schild mit einer Nummer drauf vor der Brust. Normalerweise hätte ich das wohl cool gefunden, aber irgendwie stand mir an diesem Abend nicht der Sinn danach. Eine Wahl hatte ich aber wohl auch nicht.
„Okay.“
„Bitte?“
„Okay, machen wir.“
Gleiches Spiel wie vorhin. Freiwald beugt sich nach vorn, ob sein Kollege was gehört hat. Hat er. Leider wieder genau das Gegenteil von dem, was ich eigentlich gesagt habe. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Frage, direkt mit „Nein“ zu antworten.
„Sie weigern sich also, soso.“ Ich spürte, wie Freiwald mich ansah.
„Nein, ich …“
„Wir müssen das natürlich vermerken und der Staatsanwaltschaft mitteilen.“
Ich fügte mich in mein Schicksal.
„Was passiert dann?“
„Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es eine richterliche Verfügung geben und dann müssen Sie zwangsweise Fingerabdrücke abgeben.“
Ins Schicksal fügen ist nicht so meine Art. Ich wurde ärgerlich. Naja, wieso auch nicht? Ich hatte ja eh nichts zu verlieren. Sie konnten mich wohl kaum in einen fensterlosen Kerker werfen, um mich langsam verdursten zu lassen. Oder konnten sie doch? Ich war nicht sicher, beschloss aber dennoch, von meiner Taktik, eigentlich nichts zu sagen, vorsichtig abzurücken.
„Wenn es aber dann eine Verfügung gibt, warum machen wir die Fingerabdrücke dann nicht sofort? Ich hab doch gesagt, ich wär …“
„Ich hör Ihnen gar nicht zu.“ Nach einer Pause fügte Freiwald hinzu: „Mein Partner und ich haben genau verstanden, dass Sie sich weigerten, zu kooperieren. Sie machen sich die ganze Angelegenheit nur unnötig schwerer.“
„Ich will einen Anwalt.“
„Jaja.“
Ich will nach Hause.
Ich habe dunkelblonde Haare, blaue Augen, bin mittelgroß und mittelschlank.
Ich komme aus einem guten Elternhaus. Einem sehr guten sogar. Mein Vater ist Direktor eines Gymnasiums, meine Mutter Fremdsprachenkorrespondentin.
Ich bin eingeschrieben an der Universität in Dortmund, Lehramt.
Ich werde irgendwann in die Fußstapfen meines Vaters treten, das ist der Plan.
Ich komme mit meinem Studium gut voran, mittlerweile.
Ich habe selbstverständlich Partys gefeiert, Vorlesungen geschmissen, Prüfungen verhauen. Was man halt so macht.
Ich habe nicht viele Freunde, dafür sehr gute.
Ich habe viele Bekanntschaften, dafür sehr oberflächliche.
Ich habe einen festen Freund. „Ich bin schwul und das ist auch gut so“, nicht wahr?
Ich habe einen Nebenjob, der mir Spaß macht.
Ich verdiene genug Geld, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, kann aber nicht damit umgehen.
Ich trinke gerne eiskalte Cola und habe eine ungesunde Vorliebe für Fast Food.
Ich lese viel, am liebsten Krimis.
Ich höre gerne Musik, am liebsten laute.
Ich mag Fußball.
Ich habe eine schicke Wohnung, groß genug, um sie alleine stressfrei sauberhalten zu können.
Ich bin im Grunde recht normal und dabei ziemlich glücklich.
Ich bin zur Zeit Häftling der JVA Castrop-Rauxel.
Sie haben mich abgeholt, als ich aus der Dusche kam. Es war an einem Donnerstag Ende Oktober, kurz nach der 20 Uhr-Tagesschau.
Ich hörte die Klingel schon, als ich unter der Dusche stand. Normalerweise hätte ich dem keine Beachtung geschenkt, aber meine Klingel ist schrill und laut und ich wollte nur, dass es aufhört. Nur, dass Sie Sich das besser vorstellen können: meine Klingel hört sich genauso ekelhaft schrill und laut an, wie alle Klingeln in deutschen Fernsehfilmen.
Als ich das Wasser abdrehte, hörte ich sie klopfen. Und rufen. „Herr Stenzel?“ Ich brüllte zurück, dass ich ja schon käme. Schnell, sehr notdürftig trocknete ich mich ab und band mir das Handtuch um die Hüften.
Vor mir standen zwei Polizisten, beide hielten ihre Ausweise hoch, oder was immer Polizisten so hochhalten. Ich hab da nicht so genau drauf geachtet. Zumindest sahen sie aus wie Polizisten. Leider redeten sie auch so. Also – sie sagten das, was Polizisten halt so sagen, wenn sie nicht bloß einen Kaffee bei dir trinken wollen.
„Herr Stenzel?“ Der Polizist war größer und viel breiter als ich, guckte angestrengt grimmig und trat schon mal ein. Ich machte keine Anstalten, etwas zu sagen, ich war zu konsterniert und nahm außerdem sowieso an, er hätte wohl jedes Recht, einfach so meine Wohnung zu betreten.
„Herr Stenzel, gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor. Ziehen Sie Sich was über.“ Der Polizist ging meinen Flur entlang, öffnete erst die Tür zur Küche, dann zum Schlafzimmer. „Na los jetzt.“
Ich hatte keine Chance. Was hätte ich machen oder sagen sollen? Ich wusste von dem Haftbefehl. Formell war sicher alles in Ordnung, aber sonst eben nicht. Das war nun aber bestimmt nicht die Zeit, mit den beiden Herren darüber zu diskutieren. Sie sahen auch nicht aus, als wollten sie diskutieren.
Ich folgte dem größeren der Polizisten in mein Schlafzimmer, der andere kam hinterher, ein kleiner, hagerer Mann mit schütteren Haaren, den ich auf eine merkwürdige Weise noch unsympathischer fand als seinen Kollegen. Der machte schon meinen Kleiderschrank auf, holte eine helle Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt raus. „Anziehen. Schuhe sind im Flur?“ Ich stotterte eine Bestätigung. „Ist sonst noch jemand in der Wohnung?“ Ich schüttelte den Kopf. Nur nicht zuviel reden.
„Wir waren heute früh schon mal hier.“ Ich hielt an meiner schweigsamen Strategie fest. Ich war am Vormittag nicht dagewesen, aber hätte ich gewusst, dass man mir das jetzt zum Vorwurf macht, hätte ich vielleicht doch lieber entsprechendes angedeutet.
„Sie haben absichtlich nicht geöffnet, was?“ – „Sie wollten wohl der Verhaftung entgehen?“ Das war der andere.
Ja, verdammt nochmal, am liebsten wäre es mir tatsächlich gewesen, ich hätte der Verhaftung entgehen können. Na gut, die Chance war da. Wie gesagt: der Stellungsbefehl zur JVA Castrop-Rauxel lag auf meinem Schreibtisch. Kam zwei Wochen vorher an, ungefähr. Aber da ich ja erstens unschuldig, zweitens schluderig und faul und drittens ein Verdrängungskünstler bin, hab ich dem keine Beachtung geschenkt. Wie bitte? Ich hätte einen Anwalt einschalten können? Ja, hab ich ja. Nur zu spät. Als der Stellungsbefehl längst raus, die Sache hochoffiziell war. Was? Ich hätte doch vorher schon was machen können, so eine Verhaftung mit allem Drum und Dran kommt ja nicht aus dem blauen Dunst heraus? Ja, Mann, hinterher ist man immer schlauer.
Ich war angezogen und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel im Schrank. Ja, doch, ich sah jetzt wirklich aus wie ein Verbrecher. Haare strubbelig, unrasiert, auf dem Shirt das Wahrzeichen des FC St. Pauli, der Totenkopf. So hätte man mich theoretisch auch auf der Straße festnehmen können, irgendwo in der Nähe des Jungenstrichs am Hauptbahnhof. Immerhin war ich frisch geduscht. Der kleine Hagere holte Handschellen aus seiner Jacke. Was zum Teufel? Der andere drehte mich mit dem Körper zur Wand, ich stützte mich an ihr ab, während er mich abtastete. Was sollte das denn nun noch? Er war doch die ganze Zeit dabei, als ich mich anzog.
Die Handschellen klickten und stachen schon nach wenigen Momenten unangenehm in die Haut. Der Hagere führte mich am linken Arm in den Flur, der Breite inspizierte noch schnell das Wohnzimmer und das Bad. Er kam in den Flur, als ich grad in meine weißen Turnschuhe schlüpfte. „Portemonnaie, Schlüssel?“ Ich sagte ihm, wo er alles finden konnte und er nahm die Sachen an sich, der Hagere wandte sich mit mir zum Gehen. „Schauen Sie Sich nochmal kurz um, Sie werden ihre Wohnung während der Haft ja vermutlich verlieren.“ Der Andere grinste zur Bestätigung: „Ja, acht Monate können lang werden.“ Sehr komisch.
Als wir durchs Treppenhaus gingen, standen vereinzelt Nachbarn an den Wohnungstüren, draußen vor dem Haus parkte ein Polizeiwagen. Ich saß hinter dem Beifahrersitz, der Breite neben mir. Vor dem Einsteigen sprach er ins Funkgerät: „Freiwald hier. Wir haben Herrn Stenzel verhaftet.“ Zu seinem Kollegen am Steuer sagte er: „Und los geht´s.“ Dabei lachte er. Der Hagere drehte sich zu mir um: „Sie haben uns soviel Ärger gemacht, jetzt machen wir Ihnen Ärger.“ Es klang wie ein Versprechen.
Wir fuhren durch die Dortmunder City, die noch immer voller Menschen war, in Richtung Polizeipräsidium. Die Fahrt dauert im Normalfall zehn Minuten, so auch an diesem Abend, aber das war für meine Polizisten gerade lang genug, um mich weiter zu erniedrigen. Keine Ahnung, woher sie das konnten. Aus dem Stegreif kam das jedenfalls nicht. Sie hatten sich das entweder lange vorher überlegt oder schon an anderen armen Würstchen erfolgreich erprobt. Im Nachhinein betrachtet war es vielleicht auch gar nicht so erniedrigend. Aber bedenken Sie bitte, dass ich mich auch in einer Ausnahmesituation befand. Okay, einer selbstverschuldeten. Aber da ist man schonmal empfindlicher.
Ich blickte die gesamte Fahrt über angestrengt nach draußen. Meine Sitzhaltung war unangenehm, die Jogginghose rutschte etwas. Bequemer ging grad nicht, den Handschellen sei Dank. Zu allem Überfluss hatte Freiwald, so hieß er wohl, mir den Sicherheitsgurt auch noch irgendwie genau so angelegt, dass ich mich nichtmal ansatzweise in eine angenehmere Sitzposition bringen konnte.
Erst an der Baustelle zum Dortmunder „U“, dem Wahrzeichen der ehemaligen Unions-Brauerei, fing Freiwald an, mich zu belehren. Er schloss mit der Frage, ob ich wisse, warum ich verhaftet worden sei. Natürlich wusste ich das. (Ihr seid vermutlich schon etwas neugierig. Versteh ich. Aber ich spar mir das noch etwas auf. Ich werde dann aber auch ganz offen und ehrlich zu Ihnen sein. Sie werden gleich, wenn Sie weiterlesen, erfahren, wie es für mich im Gefängnis war. Tiefer sinken geht nicht. Was für einen Grund hätte ich also noch, zu lügen oder nur einen Teil der Wahrheit zu offenbaren? Sehen Sie!)
Ob ich meinen Anwalt sehen wolle, fragte Freiwald. Pff, welchen Anwalt? Sagte ich so natürlich nicht. Ich bin ja nicht blöd. Ich verfolgte weiter die Taktik, möglichst wenig zu reden.
„Möchten Sie jemanden über Ihre Verhaftung in Kenntnis setzen?“ Gute Frage. Über die Antwort dachte ich nicht lange nach. Meine Eltern wussten von nichts, meine Schwester nicht, mein Freund nicht. Wen sollte ich anrufen? Obwohl: jetzt mit jemandem reden könnte durchaus befreiend sein. Also, nicht im eigentlichen Wortsinn. Nur seelisch. Sie verstehen?
„Ja, ich würde gerne meine Eltern anrufen.“ Die würden aus allen Wolken fallen. Freiwald beugte sich nach einer kurzen Pause lächelnd nach vorne.
„Hast du was gehört?“
„Ich hab verstanden, dass Herr Stenzel niemanden anrufen möchte.“
„Ja, ich auch“, ließ sich Freiwald wieder zurück in seinen Sitz sinken. Seine Sitzhaltung hatte irgendwie was obszönes, meinte ich aus den Augenwinkeln wahrzunehmen.
Ähm, Moment mal. Was sollte das eben überhaupt?
„Ich möchte meine Eltern benachrichtigen“, wiederholte ich.
„Ja, ich möchte auch so viel“, seufzte Freiwald lachend. „Anrufe sind heute leider nicht gestattet.“ Als er das sagte, haute er seinem Kollegen auf die Schuler. Sollte ich jetzt noch reagieren? Wurde das von mir erwartet? Ich beschloss, lieber zu schweigen. Die beiden hatten mich irgendwie in der Hand.
Aber sie waren noch nicht am Ende.
„Der Form halber, Herr Stenzel, wir müssen eine erkennungsdienstliche Untersuchung vornehmen. Sind Sie damit einverstanden?“
Untersuchung, was?
„Was ist das?“
„Fingerabdrücke. Ein paar Fotos.“
Solche Fotos kannte ich aus dem Fernsehen. Die Häftlinge hielten alle ein schwarzes Schild mit einer Nummer drauf vor der Brust. Normalerweise hätte ich das wohl cool gefunden, aber irgendwie stand mir an diesem Abend nicht der Sinn danach. Eine Wahl hatte ich aber wohl auch nicht.
„Okay.“
„Bitte?“
„Okay, machen wir.“
Gleiches Spiel wie vorhin. Freiwald beugt sich nach vorn, ob sein Kollege was gehört hat. Hat er. Leider wieder genau das Gegenteil von dem, was ich eigentlich gesagt habe. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Frage, direkt mit „Nein“ zu antworten.
„Sie weigern sich also, soso.“ Ich spürte, wie Freiwald mich ansah.
„Nein, ich …“
„Wir müssen das natürlich vermerken und der Staatsanwaltschaft mitteilen.“
Ich fügte mich in mein Schicksal.
„Was passiert dann?“
„Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es eine richterliche Verfügung geben und dann müssen Sie zwangsweise Fingerabdrücke abgeben.“
Ins Schicksal fügen ist nicht so meine Art. Ich wurde ärgerlich. Naja, wieso auch nicht? Ich hatte ja eh nichts zu verlieren. Sie konnten mich wohl kaum in einen fensterlosen Kerker werfen, um mich langsam verdursten zu lassen. Oder konnten sie doch? Ich war nicht sicher, beschloss aber dennoch, von meiner Taktik, eigentlich nichts zu sagen, vorsichtig abzurücken.
„Wenn es aber dann eine Verfügung gibt, warum machen wir die Fingerabdrücke dann nicht sofort? Ich hab doch gesagt, ich wär …“
„Ich hör Ihnen gar nicht zu.“ Nach einer Pause fügte Freiwald hinzu: „Mein Partner und ich haben genau verstanden, dass Sie sich weigerten, zu kooperieren. Sie machen sich die ganze Angelegenheit nur unnötig schwerer.“
„Ich will einen Anwalt.“
„Jaja.“
Ich will nach Hause.
versteckter Inhalt:
Freiwald half mir beim Aussteigen. Wir parkten an einem Nebeneingang des Dortmunder Polizeipräsidiums. Der Fahrer nuschelte noch ein „Sind da“ ins Funkgerät und stieg ebenfalls aus. Er flankierte mich links, während Freiwald mich an der rechten Schulter fassend zu einem großen Tor dirigierte, das sich bereits langsam öffnete.
Wir betraten den garagen-ähnlichen Raum, in dem noch mehrere Polizeiautos standen und gingen durch eine weitere kleine Tür in ein Treppenhaus. Vor einem Aufzug blieben wir stehen.
„Machst du die Unterlagen schon so weit fertig, dann bleib ich bei ihm“, wies Freiwald seinen Kollegen an, während wir auf den Aufzug warten mussten.
„Ja, besser du als ich.“ Beide lachten. Ich wurde unruhig.
„Herr Stenzel, was haben Sie sich denn überhaupt dabei gedacht, nicht auf den Haftbefehl zu reagieren? Oder nicht aufzumachen, als wir schonmal bei Ihnen waren.“ Das war wieder Freiwald. „Der denkt wahrscheinlich gar nicht.“ – „Könnte er denken, wäre er nicht hier.“
„Ich stehe gerade direkt neben Ihnen.“ Huch, war das etwa meine Stimme? Ja, war Sie. Freiwald und mein anderer Begleiter guckten sich fragend an. Weitermachen, Philipp, jetzt.
„Ich finde es ziemlich unhöflich von Ihnen, über mich zu reden, während ich direkt neben Ihnen stehe.“
Freiwald blickte wieder geradeaus auf die Aufzugtür: „Was glauben Sie, wie sehr mich interessiert, wie Sie was finden?“
„Auch wenn ich eine Straftat begangen habe und jetzt ins Gefängnis komme, könnten Sie mich mit ein bisschen mehr Respekt behandeln.“
Meine Stimme zitterte. So wie ich Pinky & Brain neben mir einschätzte, hatten sie das auch bemerkt. Die Fahrstuhltür glitt auf, die beiden schoben mich rein. Es war kein herkömmlicher Aufzug – es gab innendrin einen Mini-Knast. Ein separater Raum, vom normalen Aufzug durch ein Gitter getrennt. Fand ich eine lustige Idee, irgendwie. Freiwald schloss das Gitter auf.
„Ich finde, dass Menschen, die per Haftbefehl gesucht werden, jeglichen Respekt verspielt haben.“
Wir fuhren zwei oder drei Stockwerke hoch, genau weiß ich das nicht mehr. Freiwald ließ den Affen aus seinem Käfig, als der Aufzug zum Stehen kam. Freiwald führte mich links rum in einen langen Flur, sein Kollege ging in die andere Richtung. Unterlagen fertig machen. Was immer das für Unterlagen sein mochten. Vielleicht werde ich abgeschoben, dachte ich. Mexiko täte mir gefallen.
Waren Sie schonmal in einem Polizeigebäude? Die sehen ja irgendwie alle gleich aus. Also, von innen. Von außen ist es egal, ob es ein Nachkriegsgebäude ist, ein grauer Betonklotz oder ein futuristischer Palast mit Glaskuppel. Innen sind die alle gleich, schätz ich. Zweifarbige Wände, die untere Hälfte helloliv, die obere schmutzigweiß, abgetrennt mit einer weißen Zierleiste, der Fußboden dunkelgraues Linoleum mit schwarzen Sprenkeln.
Freiwald und ich passierten zwei Glastüren, rechts und links gingen ein paar Räume ab. Hinter der zweiten Glastür befand sich ein hellerleuchteter Raum mit großen Fenstern, links von mir eine Theke, dahinter ein paar Schreibtische, dahinter ein paar Beamte. Einer erhob sich, als wir eintraten.
„Ich hab Besuch mitgebracht“, sagte Freiwald. „Oh, schön. Besuch“, echote der Beamte, der jetzt hinter der Theke vorkam. Er führte mich in einen kleinen Raum, von dem zwei Türen abgingen. „Hier warten, bitte.“ Naja, wohin sollte ich schon gehen?
Ein paar Minuten später öffnete er meine Umkleidekabine (es gab tatsächlich Kleiderhaken an den Wänden und eine kleine Sitzbank, also ist der Vergleich nicht völlig unpassend) von der anderen Seite. Ich sah Freiwald, wie er an einem kleinen Tisch saß und das Geld aus meinem Portemonnaie zählte und auch den restlichen Inhalt auf einer Liste vermerkte. Wo hatte er das Portemonnaie und meine Schlüssel eigentlich die ganze Zeit über gehabt? Egal.
„Ausziehen“, wies mich der Beamte an, klang dabei aber wesentlich freundlicher als Freiwald, der bis hierhin immerhin in ganzen Sätzen mit mir gesprochen hatte. Da uns beiden bewusst war, dass das mit dem Ausziehen nicht so gut funktionieren wird, solang mir noch die Handschellen angelegt sind, nahm er mir die ab. Reflexartig rieb ich mir erstmal über beide Handgelenke.
„Ausziehen“, forderte man mich noch einmal auf. So ganz verstand ich die Sinnhaftigkeit nicht, aber die Lage war auch ohne Handschellen noch nicht so vorteilhaft für mich, als dass eine Grundsatzdebatte Erfolgsaussichten gehabt hätte. Ich zog also mein St.-Pauli-Shirt aus, dann die Schuhe, die Socken, meine Jogginghose. Als ich die Boxer-Shorts ausziehen wollte, meinte der Beamte, die könne ich ruhig anlassen.
Er untersuchte meine ausgezogene Kleidung und gab mir Socken und Shirt wieder. „Das können Sie wieder anziehen.“
„Was ist mit der Hose?“
„Können Sie nicht anziehen.“ Bestechend einfache Logik.
Leicht bekleidet war mir dementsprechend kalt. Die ganze Situation war mir unangenehm. Ich bin nicht gerne vor völlig Fremden halbnackt. Schon gar nicht vor Polizisten. Ich durfte aufstehen, der Beamte führte mich an den Tisch, an dem Freiwald saß, legte meine Schuhe und meine Hose auf den Tisch. Freiwald zeigte mir seine Liste.
„Ich hab an Ihrem Schlüsselbund vier Schlüssel gezählt. In Ihrem Portemonnaie waren insgesamt 34,62 Euro, eine EC-Karte, eine Krankenkassen-Karte, drei Visitenkarten und ein paar Kassenbelege. Das hab ich hier alles in diese kleinen Tütchen gepackt“, deutete er auf das, was auf dem Tisch vor ihm lag, „Sie quittieren mir das bitte hier. Nicht, dass Sie denken, ich würde Ihnen was wegnehmen.“
Ich unterschrieb, Freiwald zeichnete gegen.
„Der Kollege bringt Sie jetzt in die Zelle“, sagte Freiwald, stand auf und ging. Zeitgleich kam ein Beamter zu mir, ein anderer als vorhin in der Umkleidekabine. Er war schon älter, trug einen gepflegten grauen Vollbart und war das erste freundliche Gesicht, das mir an dem Abend begegnete. Er trug ein Klemmbrett in der linken Hand. Ich wartete darauf, dass er mich am Arm fassen würde, um mich zur Zelle zu bringen. Aber er ging an mir vorbei, drehte sich nach ein paar Schritten um und fragte: „Kommen Sie? Und neben Sie bitte ihre Schuhe und ihre Hose mit?“
Ich folgte ihm. Wir passierten eine weitere Glastür. Wir waren im Zellentrakt angelangt. Polizeigewahrsam, so nennt man das wohl. Links und rechts waren jeweils sechs Zellen, vor den breiten dunklen Holztüren standen vereinzelt Schuhe. An den schwarzen Eisenschlössern der Zellentüren hingen Jacken oder Pullover.
„Sie kommen direkt in Zelle 1.“
Zelle 1 stand offen, es war die erste Tür auf der linken Seite. Der Raum war recht groß, fast schon gleißend hell erleuchtet, Fußboden und Decke waren komplett grau. Die Wand war ursprünglich auch mal grau, aber nun dicht beschrieben und bemalt. Es gab ein kleines Oberlicht aus Milchglas, das auf Kipp stand. Links hinten stand eine Matratze hochkant an der Wand. Direkt am Eingang links befand sich eine Toilette, die Brille war hochgeklappt. Sauber gemacht wurde hier lange nicht mehr und ich stellte mir kurz Freiwald vor, wie er hier die Bremsspuren aus der Toilette putzt.
„Na, mal gucken, ob´s woanders besser aussieht“, grinste mich der vollbärtige Beamte an und steuerte schon die gegenüberliegende Zelle an, die sich von der ersten in keinster Weise unterschied. Nur die Toilette war geringfügig reinlicher. Immerhin.
„Kann ich meine Hose wieder anziehen?“ Ich fror schon ziemlich stark.
„Leider nicht. Zeigen Sie mal her.“ Er nahm mir die Hose ab und hielt sie mir hin. „Sehen Sie, hier ist ein Gummizug drin.“ Er nahm das linke Hosenbein in die Hand. „Und hier auch.“
„Aber es ist kalt.“
„Ich weiß. Aber das ist leider Vorschrift. Und dient nur Ihrer Sicherheit. Wir wollen nicht, dass Sie sich hier was antun.“
„Schon klar.“
„Warten Sie kurz, ich hol Ihnen eine Decke.“
Wir betraten den garagen-ähnlichen Raum, in dem noch mehrere Polizeiautos standen und gingen durch eine weitere kleine Tür in ein Treppenhaus. Vor einem Aufzug blieben wir stehen.
„Machst du die Unterlagen schon so weit fertig, dann bleib ich bei ihm“, wies Freiwald seinen Kollegen an, während wir auf den Aufzug warten mussten.
„Ja, besser du als ich.“ Beide lachten. Ich wurde unruhig.
„Herr Stenzel, was haben Sie sich denn überhaupt dabei gedacht, nicht auf den Haftbefehl zu reagieren? Oder nicht aufzumachen, als wir schonmal bei Ihnen waren.“ Das war wieder Freiwald. „Der denkt wahrscheinlich gar nicht.“ – „Könnte er denken, wäre er nicht hier.“
„Ich stehe gerade direkt neben Ihnen.“ Huch, war das etwa meine Stimme? Ja, war Sie. Freiwald und mein anderer Begleiter guckten sich fragend an. Weitermachen, Philipp, jetzt.
„Ich finde es ziemlich unhöflich von Ihnen, über mich zu reden, während ich direkt neben Ihnen stehe.“
Freiwald blickte wieder geradeaus auf die Aufzugtür: „Was glauben Sie, wie sehr mich interessiert, wie Sie was finden?“
„Auch wenn ich eine Straftat begangen habe und jetzt ins Gefängnis komme, könnten Sie mich mit ein bisschen mehr Respekt behandeln.“
Meine Stimme zitterte. So wie ich Pinky & Brain neben mir einschätzte, hatten sie das auch bemerkt. Die Fahrstuhltür glitt auf, die beiden schoben mich rein. Es war kein herkömmlicher Aufzug – es gab innendrin einen Mini-Knast. Ein separater Raum, vom normalen Aufzug durch ein Gitter getrennt. Fand ich eine lustige Idee, irgendwie. Freiwald schloss das Gitter auf.
„Ich finde, dass Menschen, die per Haftbefehl gesucht werden, jeglichen Respekt verspielt haben.“
Wir fuhren zwei oder drei Stockwerke hoch, genau weiß ich das nicht mehr. Freiwald ließ den Affen aus seinem Käfig, als der Aufzug zum Stehen kam. Freiwald führte mich links rum in einen langen Flur, sein Kollege ging in die andere Richtung. Unterlagen fertig machen. Was immer das für Unterlagen sein mochten. Vielleicht werde ich abgeschoben, dachte ich. Mexiko täte mir gefallen.
Waren Sie schonmal in einem Polizeigebäude? Die sehen ja irgendwie alle gleich aus. Also, von innen. Von außen ist es egal, ob es ein Nachkriegsgebäude ist, ein grauer Betonklotz oder ein futuristischer Palast mit Glaskuppel. Innen sind die alle gleich, schätz ich. Zweifarbige Wände, die untere Hälfte helloliv, die obere schmutzigweiß, abgetrennt mit einer weißen Zierleiste, der Fußboden dunkelgraues Linoleum mit schwarzen Sprenkeln.
Freiwald und ich passierten zwei Glastüren, rechts und links gingen ein paar Räume ab. Hinter der zweiten Glastür befand sich ein hellerleuchteter Raum mit großen Fenstern, links von mir eine Theke, dahinter ein paar Schreibtische, dahinter ein paar Beamte. Einer erhob sich, als wir eintraten.
„Ich hab Besuch mitgebracht“, sagte Freiwald. „Oh, schön. Besuch“, echote der Beamte, der jetzt hinter der Theke vorkam. Er führte mich in einen kleinen Raum, von dem zwei Türen abgingen. „Hier warten, bitte.“ Naja, wohin sollte ich schon gehen?
Ein paar Minuten später öffnete er meine Umkleidekabine (es gab tatsächlich Kleiderhaken an den Wänden und eine kleine Sitzbank, also ist der Vergleich nicht völlig unpassend) von der anderen Seite. Ich sah Freiwald, wie er an einem kleinen Tisch saß und das Geld aus meinem Portemonnaie zählte und auch den restlichen Inhalt auf einer Liste vermerkte. Wo hatte er das Portemonnaie und meine Schlüssel eigentlich die ganze Zeit über gehabt? Egal.
„Ausziehen“, wies mich der Beamte an, klang dabei aber wesentlich freundlicher als Freiwald, der bis hierhin immerhin in ganzen Sätzen mit mir gesprochen hatte. Da uns beiden bewusst war, dass das mit dem Ausziehen nicht so gut funktionieren wird, solang mir noch die Handschellen angelegt sind, nahm er mir die ab. Reflexartig rieb ich mir erstmal über beide Handgelenke.
„Ausziehen“, forderte man mich noch einmal auf. So ganz verstand ich die Sinnhaftigkeit nicht, aber die Lage war auch ohne Handschellen noch nicht so vorteilhaft für mich, als dass eine Grundsatzdebatte Erfolgsaussichten gehabt hätte. Ich zog also mein St.-Pauli-Shirt aus, dann die Schuhe, die Socken, meine Jogginghose. Als ich die Boxer-Shorts ausziehen wollte, meinte der Beamte, die könne ich ruhig anlassen.
Er untersuchte meine ausgezogene Kleidung und gab mir Socken und Shirt wieder. „Das können Sie wieder anziehen.“
„Was ist mit der Hose?“
„Können Sie nicht anziehen.“ Bestechend einfache Logik.
Leicht bekleidet war mir dementsprechend kalt. Die ganze Situation war mir unangenehm. Ich bin nicht gerne vor völlig Fremden halbnackt. Schon gar nicht vor Polizisten. Ich durfte aufstehen, der Beamte führte mich an den Tisch, an dem Freiwald saß, legte meine Schuhe und meine Hose auf den Tisch. Freiwald zeigte mir seine Liste.
„Ich hab an Ihrem Schlüsselbund vier Schlüssel gezählt. In Ihrem Portemonnaie waren insgesamt 34,62 Euro, eine EC-Karte, eine Krankenkassen-Karte, drei Visitenkarten und ein paar Kassenbelege. Das hab ich hier alles in diese kleinen Tütchen gepackt“, deutete er auf das, was auf dem Tisch vor ihm lag, „Sie quittieren mir das bitte hier. Nicht, dass Sie denken, ich würde Ihnen was wegnehmen.“
Ich unterschrieb, Freiwald zeichnete gegen.
„Der Kollege bringt Sie jetzt in die Zelle“, sagte Freiwald, stand auf und ging. Zeitgleich kam ein Beamter zu mir, ein anderer als vorhin in der Umkleidekabine. Er war schon älter, trug einen gepflegten grauen Vollbart und war das erste freundliche Gesicht, das mir an dem Abend begegnete. Er trug ein Klemmbrett in der linken Hand. Ich wartete darauf, dass er mich am Arm fassen würde, um mich zur Zelle zu bringen. Aber er ging an mir vorbei, drehte sich nach ein paar Schritten um und fragte: „Kommen Sie? Und neben Sie bitte ihre Schuhe und ihre Hose mit?“
Ich folgte ihm. Wir passierten eine weitere Glastür. Wir waren im Zellentrakt angelangt. Polizeigewahrsam, so nennt man das wohl. Links und rechts waren jeweils sechs Zellen, vor den breiten dunklen Holztüren standen vereinzelt Schuhe. An den schwarzen Eisenschlössern der Zellentüren hingen Jacken oder Pullover.
„Sie kommen direkt in Zelle 1.“
Zelle 1 stand offen, es war die erste Tür auf der linken Seite. Der Raum war recht groß, fast schon gleißend hell erleuchtet, Fußboden und Decke waren komplett grau. Die Wand war ursprünglich auch mal grau, aber nun dicht beschrieben und bemalt. Es gab ein kleines Oberlicht aus Milchglas, das auf Kipp stand. Links hinten stand eine Matratze hochkant an der Wand. Direkt am Eingang links befand sich eine Toilette, die Brille war hochgeklappt. Sauber gemacht wurde hier lange nicht mehr und ich stellte mir kurz Freiwald vor, wie er hier die Bremsspuren aus der Toilette putzt.
„Na, mal gucken, ob´s woanders besser aussieht“, grinste mich der vollbärtige Beamte an und steuerte schon die gegenüberliegende Zelle an, die sich von der ersten in keinster Weise unterschied. Nur die Toilette war geringfügig reinlicher. Immerhin.
„Kann ich meine Hose wieder anziehen?“ Ich fror schon ziemlich stark.
„Leider nicht. Zeigen Sie mal her.“ Er nahm mir die Hose ab und hielt sie mir hin. „Sehen Sie, hier ist ein Gummizug drin.“ Er nahm das linke Hosenbein in die Hand. „Und hier auch.“
„Aber es ist kalt.“
„Ich weiß. Aber das ist leider Vorschrift. Und dient nur Ihrer Sicherheit. Wir wollen nicht, dass Sie sich hier was antun.“
„Schon klar.“
„Warten Sie kurz, ich hol Ihnen eine Decke.“