#1528975
Sid, ich glaube, hier handelt es sich um einen Fall von Überinterpretation (aus guter Intention heraus). Ich stimme zwar zu, daß die Rassismus-Thematik arg oberflächlich abgehandelt wird - wenngleich es meines Erachtens gerade noch gelingt, sie nicht verharmlosend zu präsentieren -, aber die Sache mit der Schuldzuweisung kann ich wirklich nicht nachvollziehen.

Um speziell auf die Bar-Sequenz einzugehen: Man muß natürlich die Umstände berücksichtigen und dann ist es doch klar: Wer im Jahr 1962 als Schwarzer (und auch noch angetrunken) nachts in einem Südstaaten-Kaff in eine Bar geht, der muß zumindest damit rechnen, damit keine Begeisterungsstürme bei den Einheimischen auszulösen. Das ist extrem bedauernswert, aber trotzdem historisch eindeutig. Und wenn man es trotzdem tut (und Don weiß ja ganz genau, daß es gefährlich ist), dann setzt man sich leichtsinnig einer Gefahr für Leib und Leben aus. Das bedeutet aber selbstverständlich noch lange nicht, daß man auch die Schuld trägt, wenn man dann tatsächlich attackiert wird. Leichtsinn ungleich Schuld! Die Schuld liegt allein bei den unprovozierten Angreifern und nichts anderes deutet "Green Book" IMO auch nur an.

Wenn ich mich in eine Trump-Wahlkampfveranstaltung in Texas stelle und laut schreie: "Trump ist ein hirnverbrannter Idiot und nicht halb so intelligent wie ein verbranntes Toastbrot", dann muß ich mich auch nicht wundern, wenn ich dafür verprügelt werde. Schuld haben trotzdem die Prügler (wobei die im Gegensatz zu den Barschlägern im Film sogar provoziert wurden), moralisch und rechtlich ...
#1528978
Natürlich ist es leichtsinnig, sich in Gefahr zu begeben, selbst wenn die Aggressoren im Unrecht sind. Das ist nicht mein Problem mit der Szene - mein Problem liegt darin, wie der Film sie verwendet.

Lustigerweise hat eine andere Rassismus-Dramödie eine ähnliche Szene, und nutzt sie in meinen Augen viel besser: In "Gegen jede Regel", der vom ersten gemischt-ethnischen High-School-Footballteam seines Bundesstaates handelt, wird gezeigt, wie Schwarze in eine für sie "ungeeignete Bar" (also eine Bar voller mieser Idioten) gehen und daraufhin beschimpft und verjagt werden. Während aber in "Green Book" die Szene mit Shirleys "Unvermögen" nachhallt, auf sich aufzupassen, geht in "Gegen jede Regel" die Szene mit der Wut auf die Rassisten zu Ende, zudem hallt nach, wie die weißen Freunde der Footballspieler einsehen müssen, dass sich wohl die gesellschaftlichen Probleme leider nicht lösen lassen, "nur" weil ein paar Teenager nun Freunde geworden sind. Anders gesagt: Beide Filme zeigen, wie Schwarze in eine Bar für Weiße gehen, nur ein Film unterstreicht mehrmals, dass das ja leichtsinnig war.

Und das ist mein Problem. Nicht dringend, WAS "Green Book" schildert, sondern WIE. Ich betone ja auch mehrmals in der Kritik, dass ich eher glaube, dass bei "Green Book" schlicht Naivität dran schuld ist und nicht böse Absicht.

Trotzdem finde ich, dass es auch einem insgesamt auf Wohlfühlstimmung bedachtem Film (also einem, der vom Überkommen von Rassismus erzählen will, statt vom Schaden, den er anrichtet) besser steht, wenn er sich mehr Mühe gibt, das gesellschaftliche Problem zu kritisieren, statt Zeit zu verschwenden, die Opfer in die Mitschuld zu ziehen. Denn, wie dein Trump-Vergleich sagt (oder wie man es noch simpler argumentieren könnte mit: Einbruch ist falsch, dennoch sollte ich besser meine Tür abschließen): Es erklärt sich von alleine, dass man sich nicht in Gefahr begeben "muss", egal wie falsch die liegen, die einen in Gefahr bringen.

Trotzdem ist es nicht nötig, mehrmals unterschwellig herum zu argumentieren, dass man als Rassismusopfer halt besser aufpassen könnte. Was gewinnt der Film dadurch schon?

Dem Film lasse ich ja an seiner Oberfläche dennoch die gute Absicht, den Entertainment-Faktor und Alis Spiel. Dennoch gibt es Filme, auch in der gleichen Tonalität, die das Problem besser, da weniger kurzsichtig argumentierend, anpacken.
#1529023
Es ist zwar schon eine Weile her, daß ich "Gegen jede Regel" gesehen habe (auf jeden Fall im Kino, vielleicht danach noch einmal im Free-TV), aber soweit ich mich erinnern kann, ist der Tonfall der beiden Filme - man könnte auch sagen: die Intention - doch deutlich unterschiedlich. In "Gegen jede Regel" stand die Rassismus-Thematik, soweit ich mich erinnere, ziemlich klar im Zentrum, während sie in "Green Book" eher den Hintergrund für die zentrale Geschichte "einer besonderen Freundschaft" (um den deutschen Untertitel zu zitieren) bildet.

Da finde ich es legitim, eine etwas oberflächlichere Herangehensweise zu wählen - zumal der relativ weltfremde und mit Sicherheit nicht in körperlichen Auseinandersetzungen geübte Don selbstredend eine ganz andere Art von Persönlichkeit ist als die Football-Spieler in "Gegen jede Regel", die sich notfalls auch selbst einigermaßen zu helfen wissen.

Ehrlich gesagt habe ich mich aber selbst während des Kinobesuchs zwischenzeitlich gefragt, ob man "Green Book" vielleicht sogar in die berühmt-berüchtigte "White Saviour"-Kategorie stecken kann/muß, da es auf den ersten Blick (wie eben besonders in der Barszene illustriert) schon so wirkt, als würde Don wesentlich mehr von Tony lernen als umgekehrt. Aber bei genauerem Nachdenken ist das meines Erachtens doch ziemlich ausgewogen gehalten, nur ist Tonys Lernprozeß etwas subtiler umgesetzt als Dons und wirkt deshalb "schwächer" - obwohl er es nicht ist.

Daß es bessere "Rassismus-Filme" (auch als Feelgood-Movies) gibt, daran dürfte wenig Zweifel bestehen. Trotzdem finde ich, daß "Green Book" das, was der Film sich vorgenommen hat, ziemlich überzeugend erreicht. Man kann sicher bedauern, daß er gar nicht mehr oder Anderes erreichen WOLLTE, aber letztlich bleibt das dann eine akademische Diskussion (was ja nicht schlimm ist).
In meiner Jahresbestenliste wird "Green Book" garantiert nicht ganz oben auftauchen (bestenfalls schafft er es knapp in die Top 10, aber das läßt sich Anfang Februar natürlich noch nicht absehen), doch bei den OSCARs wäre er für mich jedenfalls ein deutlich erträglicherer "Best Picture"-Gewinner als "Bohemian Rhapsody", "A Star Is Born" oder "Black Panther" ("The Favourite" und "Roma" habe ich noch nicht gesehen, "BlacKkKlansman" würde ich in etwa auf dem gleichen Niveau einstufen). :)