- Di 28. Jun 2005, 12:16
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Auf der Jagd nach der 10
TV-Programmplanung ist längst keine Sache des Gefühls mehr: Die Methoden der Sender, das Sehverhalten der Zuschauer zu erforschen, werden immer aufwendiger. Demnächst könnte das Potential einzelner Formate sogar im Kernspintomografen getestet werden.
Die Folterkammer für Fernsehmacher liegt in einem Geschäftshaus direkt am Münchner Stachus: ein dunkler Raum, zwei Monitore und ein auf einer Seite durchlässiger Spiegel, um unbemerkt in den Nachbarraum zu schauen.
Es ist ein Blick wie in ein Vernehmungszimmer. Doch hier werden keine Verbrecher auseinander genommen, sondern TV-Sendungen. Und das Verhör führen nicht Polizeiermittler, sondern meinungsfreudige Menschen wie Gabi*, 33, Versicherungsangestellte, Mona, 48, Hausfrau, und Gudrun, 39, Anwältin. Es sind ganz normale deutsche Durchschnittsfernsehgucker.
Auf der anderen Seite des Spiegels, unsichtbar für die Probanden, sitzen die Fernsehmacher. Heute ist das Christian Schneiderbauer, Programmforschungschef des TV-Konzerns ProSiebenSat.1, denn Gabi, Mona, Gudrun und sieben weiteren Frauen im Alter zwischen 30 und 49 Jahren wird die ProSieben-Serie "Desperate Housewives" vorgeführt. Die läuft zwar längst im regulären Programm, aber getestet wird auch das.
Schneiderbauer kommt seit Jahren regelmäßig in das dunkle Zimmer, in letzter Zeit fast immer allein. "Das ist ganz schön brutal hier", sagt er. Moderatoren etwa oder Drehbuchautoren wolle man deshalb lieber nicht mehr dabei zusehen lassen, wie ihre Sendungen von zufällig ausgewählten Testsehern zerlegt werden. "Da ist schon so manch einer hinterher deprimiert nach Hause geschlichen."
Trotzdem wagt es fast kein Sender mehr, auf das mitunter gnadenlose Urteil der Durchschnittsgucker zu verzichten: Ob Unterhaltungsshow oder Spielfilm, Serie oder Reportage - so gut wie jede Sendung wird im Fernsehlabor vorab zur Probe serviert. Getestet wird vor der ersten Ausstrahlung mit Drehbüchern, Sendekonzepten und Piloten. Getestet werden laufende Sendungen auf Schwächen, Stärken und passenden Sendeplatz. Getestet werden aber auch die Programme der Konkurrenz.
Weit über hundertmal im Jahr nutzt allein ProSieben die mittlerweile in vielen großen Städten angesiedelten Fernsehlabore. Mit immer ausgefeilteren Instrumenten betreiben die TV-Macher dort die Entmystifizierung des unbekannten Wesens Zuschauer.
Im milliardenschweren Fernsehgeschäft will sich kein Senderboss mehr allein auf das eigene Bauchgefühl verlassen. Stattdessen werden Zuschauer tiefenpsychologisch befragt, in Gruppendiskussionen ausgehorcht und sogar an Messgeräte angeschlossen, die Lügendetektoren ähneln. Sogar in Kernspintomografen sollen die Testseher künftig geschoben werden, damit die Forscher deren Gehirnreaktionen beim gleichzeitigen Fernsehen messen können.
Und längst reicht es den Sendern auch nicht mehr zu wissen, wie viele Zuschauer wann vor dem Fernseher saßen. Stattdessen errechnen hochkomplexe Computermodelle, wie viele männliche, hochgebildete Gutverdiener beispielsweise gemeinsam mit ihrer Frau Sport gucken oder weshalb um 20.47 Uhr 48.000 Zuschauer von Sat.1 zu RTL wechselten.
"Programmgestaltung ohne Forschung ist heute nicht mehr vorstellbar", sagt ProSieben-Chef Dejan Jocic. Und auch RTL-Chef Gerhard Zeiler betont: "Die Bedeutung der Programmforschung hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Es gibt keine Sendung, die hier nicht regelmäßig zur Kontrolle durchgeht - egal ob 'Gute Zeiten, schlechte Zeiten' oder ,Wer wird Millionär?'"
Noch bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein war Fernsehforschung dagegen vor allem eines: Zuschauerzählung. Per "Berichtsband" landeten einmal die Woche die Quoten auf den Schreibtischen der damals noch ausschließlich öffentlich-rechtlichen Senderbosse. Doch seit dem Start des werbefinanzierten Privatfernsehens hat sich die Bedeutung der Quote grundlegend verändert: Sie ist zur Währung des Fernsehgeschäfts geworden.
Die nötigen Grunddaten liefert die GfK-Fernsehforschung, die von Michael Darkow geleitet wird. Darkow ist schon seit 17 Jahren Wächter des geheimsten Clubs der Deutschen, jener rund 13.000 Menschen, die in 5640 Fernseh-Testhaushalten leben. Mit niemandem dürfen sie über ihren Nebenjob sprechen. Sogar untereinander ist Kontakt verboten.
Wer Darkow in seinem Büro im hintersten Winkel einer tristen Nürnberger Betonburg besucht, wird zügig durch die verwinkelten Gänge bugsiert. "Damit es keine Gelegenheit gibt, in eines der Zimmer zu schauen, wo vielleicht gerade zufällig die Adressen über den Monitor flimmern", erklärt Darkow. Die Vorsicht ist verständlich: Was seine 5640 Testhaushalte schauen, sieht ganz Deutschland - zumindest statistisch. Denn "genau kann das natürlich niemand wissen", sagt Darkow. Schließlich sei es ein Modell - allerdings eines, das ein Abbild der Bevölkerung in jeder Beziehung darstellt. Und so entscheiden diese 5640 Haushalte über gewaltige Investitionen: Rund 3,9 Milliarden Euro flossen vergangenes Jahr in TV-Werbung.
90 Millionen Euro lassen sich die in der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung zusammengeschlossenen TV-Sender die Erforschung der Quote in den kommenden sieben Jahren kosten - und erhalten dafür immer genauere Profile ihrer Zuschauer. Denn die Werbekunden interessieren sich nicht mehr nur für Alter, Geschlecht und Wohnort, sondern für Freizeitinteressen, Konsumverhalten und Lebensstil.
"Lebenswelten einbeziehen" heißt das bei der GfK, die ihre Testseher heute in Kategorien eingeteilt hat: Da finden sich dann etwa die Traditionsverwurzelten ("typische Freizeitaktivität: stricken, häkeln, selber schneidern"), DDR-Nostalgiker ("resignierte Wende-Verlierer") oder Konsum-Materialisten ("Lebensstil: intensiver Medien- und Genussmittelkonsum").
Immer länger werden deswegen die Zahlenkolonnen, die jede Nacht aus den Testhaushalten nach Nürnberg überspielt, aufbereitet und feinstens seziert morgens ab 7.30 Uhr über die Bildschirme der Senderchefs flimmern. Nur ist das den Sendern auch nicht mehr genug.
Bei RTL und ProSiebenSat.1 haben die Fernsehforscher deshalb eigene, hochkomplexe Computersysteme entwickelt, die Quotenkurven und Fernsehbilder miteinander verbinden. Die Ressortchefs von ProSieben etwa gehen jeden Morgen den sekundengenauen Quotenverlauf der Sendungen vom Vortag auf der Suche nach ungewöhnlichen Ausschlägen durch.
Ungewöhnlich ist etwa, wenn RTL in die Werbung geht und ProSieben trotzdem gleichzeitig Zuschauer verliert. ProSieben-Chefredakteur Guido Bolten deutet auf einen abrupten Knick in der Quotenkurve der ProSieben-"Reportage": In nur 20 Sekunden verlor der Sender knapp 200.000 Zuschauer.
Per Mausklick schaltet Bolten das Fernsehbild zu, um zu sehen, was in dem Moment über den Bildschirm flimmerte: Der Projektleiter einer Automesse redet über Tuning - vor einem leeren Platz, keine Autos sind zu sehen. Bolten öffnet per Mausklick ein weiteres Fenster, das die Zuschauerbewegungen zwischen den Sendern anzeigt. 15.871 Zuschauer wandern allein in den ersten fünf Sekunden des sprechenden Projektleiters zu RTL II - dort läuft ein ähnliches Format. Der Messemann ist offensichtlich einer der gefürchteten "Umschaltpunkte", denen die Fernsehmacher ständig auf der Spur sind.
Interessant sind für die TV-Manager aber auch die Ausschläge nach oben: Die Quotenanalyse des ProSieben-Boulevardmagazins "Sam" zeigte, dass die Zuschauerzahl immer drastisch anstieg, wenn über den Alltag von Familien berichtet wurde. Prompt machte der Münchner Kanal daraus eine eigene Sendung - sogar ohne sie vorher im Fernsehlabor testen zu lassen.
Auf Probeläufe neuer Programme verzichten die Sender heute nur noch, wenn die Zeit vor dem Sendestart nicht reicht. Welche dramatischen Folgen das haben kann, erlebte ProSieben zuletzt mit der ungetesteten Reality-Show "Hire or Fire" - die so grandios floppte, dass sie schon nach einer Episode wieder aus dem Programm flog.
Aber auch vorher getestete Sendungen haben noch lange keine Erfolgsgarantie.
Oft entscheidet auch das Gegenprogramm der Konkurrenz oder wie bei Reality-Shows das Verhalten der Darsteller.
Dennoch wird kaum eine wichtige Entscheidung noch gegen die Meinung des Probepublikums getroffen, das pro Test meist aus vier Gruppen mit je zehn Zuschauern besteht. Vor Drehbeginn der Sat.1-Anwaltsserie "Edel & Starck" wurde den Testsehern beispielsweise eine Szene mit unterschiedlichen Schauspielerpaarungen vorgespielt, um das beste Duo auszuwählen. Am besten kamen aber zwei Schauspieler an, die gar nicht als Paar vorgestellt worden waren. Sat.1 folgte dem Votum des Publikums - und produzierte einen Hit.
"Wenn es irgendwie möglich ist, versuchen die Sender bei neuen Programmen immer, mehrere Piloten zu produzieren, um dem Publikum eine Auswahl zu geben", betont Fernsehforscher Schneiderbauer. Für das Wissensmagazin "Galileo" wurden gleich vier verschiedene Moderatoren und Studiodekorationen präsentiert.
Das Testen lohnt sich aber auch bei Programmen, auf welche die Sender keinen Einfluss mehr haben - wie dem von ProSieben in den USA eingekauften QuotenHit "Desperate Housewives". "Von so überdurchschnittlich erfolgreichen Programmen bekommen wir Hinweise für künftige Einkäufe oder Eigenproduktionen", sagt Schneiderbauer. Denn die Grundfragen seien immer gleich: Welche Charaktere kommen an? Darf eine Krimi-Serie auch lustig sein? Wie muss die Dramaturgie sein, damit sie als spannend empfunden wird?
Allerdings reicht es den Fernsehforschern nicht, die Antworten auf diese Fragen zu hören - sie wollen sie sehen. "Ein Mann würde sich zum Beispiel eher ungern offen als Fan einer täglichen Seifenoper outen", sagt Schneiderbauer. Also werden die Testseher für viele Tests auch verkabelt: an der einen Hand zwei Messfühler, die körperliche Reaktionen wie Anspannung, Ekel oder sexuelle Erregung beim Sehen einer Sendung messen.
In die andere Hand bekommen sie einen Regler, mit dem verschiedene Stufen von Zustimmung oder Ablehnung signalisiert werden. Auf dem Bildschirm können die Forscher dann anhand eines Kurvenverlaufs auf einer Skala von 0 bis 10 verfolgen, wie die Tester auf Szenen und Schauspieler reagieren. "Wenn man unter 5 fällt, hat man ein Problem, die Bestnote 10 wird so gut wie nie erreicht", sagt Schneiderbauer.
Nach der Aufzeichnung wurden die zehn Probanden fast zwei Stunden zur Sendung befragt - mit gutem Grund, wie sich zeigte. Denn fast alle bemäkelten eine Szene, in der Witze über Krebs gemacht wurden, als "pietätlos" und "unpassend". Der Kurvenstand während der kritisierten Szene: zwischen 9 und 10.
Quell: SPIEGEL ONLINE