- Mo 10. Mai 2010, 17:44
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1984
Die Orwell-Welt von 1984: Es gibt nur noch drei Supermächte (Ozeanien, Eurasien und Ostasien), die ständig miteinander im Krieg sind. Winston Smith lebt im ehemals britischen Teil Ozeaniens und muss sich dort der totalitären Ideologie des "Engsoz" und des sinnbildlich für die völlige Überwachung stehende "Großen Bruders" unterwerfen. Er hilft mit, die Vergangenheit ständig den aktuellen Wünschen der Regierung anzupassen, denn diese ist schon lange kein unabänderliches Gut mehr, sondern wird je nach aktueller Stimmungslage umgeschrieben. Überwacht von der "Gedankenpolizei" und den überall herumstehenden "Televisoren", beides Instrumente der "Partei", hat er ein Leben im Sinne der Parteiideologie zu führen und muss sich für jede Tat, ja sogar jeden Gedanken, fürchten, der eine Zuwiderhandlung darstellt. Geblieben ist auch in diesem Staat die gesellschaftliche Ungerechtigkeit, denn während die Mitglieder der "inneren Partei" reich und wohlhabend sind, sich sogar kurzzeitig der totalen Überwachung entziehen können, geht es den Mitgleidern der "äußeren Partei" schon schlechter, während die einfache Bevölkerung despektierlich als "Proles" bezeichnet werden und von Parteimitgliedern auf einer Stufe mit Tieren gestellt werden.
Winston Smith kann sich schon seit langem nicht mehr mit der Partei identifizieren und begeht immer wieder "Gedankenverbrechen". Widerwillig und ohne Rückgrad geht er aus Furcht vor Konsequenzen zwar den ihm auferlegten Verpflichtungen nach, merkt aber die innerliche Abneigung immer stärker. Er findet eine Gleichgesinnten in Julia, mit der er eine schöne Zeit erlebt und zum ersten Mal seit langem wirkliche Liebe empfindet. Nachdem er jedoch von der Gedankenpolizei gefangen genommen wird, beginnt eine Gehirnwäsche, die ihm Gehorsam und am Ende sogar die Liebe gegenüber dem verhassten Regime lehrt und alle Empfindungen gegenüber Julia auslöscht.
Das Werk ist in drei Teile eingeteilt: Die Einführung mitsamt der innerlichen Auflehnung gegen das Regime, die Zeit mit Julia mitsamt der Verhaftung sowie die Folterung und Gehirnwäsche der Partei. Wie insbesondere nach Lektüre des doch sehr harmlosen Buches "Farm der Tiere" zu erwarten war, zeigt George Orwell hier auf wirklich bedrückende Art die Konsequenzen eines totalitären Überwachungsstaates auf, der den Menschen sogar jegliche gedankliche Freiheit nehmen möchte und mithilfe der "Neusprache" dies dauerhaft wohl sogar tun wird. In dieser überaus erschütternden und ausweglosen Dystopie warnt Orwell eindringlich vor einer Zukunft mit völliger Kontrolle über den Bürger.
Um es jedoch ehrlich zu sagen, bin ich enttäuscht von diesem Buch, denn ich hatte nicht weniger erwartet als ohne jedes Wimpernzucken die Höchstwertung vergeben zu können. Da es jedoch partiell nicht nur etwas schwierig zu lesen ist, sondern sogar oftmals etwas spannungsarm, kann ich dies zumindest bei einer Zehnerskala nicht tun. Im Mittelteil ist es einfach zu offensichtlich, dass Orwell nicht die Handlung fortführen möchte, sondern dem Leser durch das Buch von Goldstein ausführlichst seine Sicht der gesellschaftspolitischen Vergangenheit und Zukunft aufzeigt. Dies ist zwar für die einen interessant zu lesen, manch anderer wird dies jedoch sicherlich als zu trocken empfinden, was gut verständlich ist.
Zudem wiederholen sich die Ausführungen Orwells einfach zu oft. Das mag vielleicht ein gewolltes Stilmittel sein, aber nachdem man zum 3000. Mal die drei Parteigrundsätze gelesen hat, fühlt man sich einfach etwas ermüdet.
Ansonsten ein wahnsinnig interessantes Werk. Interessant auch die Tatsache, dass die beiden letzten Werke von ihm ("Farm der Tiere", 1945 und eben "1984", 1949) zu richtigen Klassikern wurden, während die Vorgänger eher eine Nischenrolle einnehmen. Mit dem Alter kam wohl auch bei Orwell die Weisheit. Sollte auf jeden Fall jeder einmal gelesen haben, denn mit gut 300 Seiten ist das Buch auch nicht gerade unlesbar lang.
Und auch wenn einige von Orwells Visionen tatsächlich eingetroffen sind, kann man ein wenig mit Stolz behaupten: Die Welt von heute ist nicht ansatzweise so schlimm, wie sie Orwell schon für 1984 prognostizierte.
9/10
Fohlen