Das nennt man wohl Liebe auf den zweiten Blick oder eher noch: love against all odds.
Shameless lag jetzt schon einige Wochen auf meiner Platte seit es doch erstaunlich häufig im Season 2010/11 Abrechnungsthread genannt wurde. Trotzdem konnte ich mich bisher nie so recht aufraffen es zu schauen, denn der Prämisse nach, hätte das eigentlich gar nicht mein Fall sein dürfen:
Tendenziell bevorzuge ich eher vom Plot angetriebene als characterlastige Shows; Ich bin nicht unbedingt ein Fan des white trash working class settings, weil das zu oft in mitleidigem Sozialkitsch endet; Ich mag Kinder im echten Leben schon nur bedingt, in Serien sind sie vor allem in größerer Zahl meist schrecklich, weil sie entweder von oben herab und ohne Verständnis für eine authentische, kindliche Weltsicht geschrieben wurden oder einfach schlecht gespielt sind (deshalb ist Full House auch bis heute eine meiner meistgehassten Serien ever); zu schlechter letzt kann ich Alkoholiker-Rollen nicht ausstehen, weil sie meist viel zuuuu erbärmliche Jammergestalten sind, für die die meisten Drehbücher hintenrum dann doch wieder klischeehafte Entschuldigungen machen.
Und doch hab ich Shameless jetzt innerhalb von 48 Stunden verschlungen und keiner dieser Punkte hat mich auch nur ansatzweise gestört.
Die Kids sind fantastisch besetzt und geschrieben! Zumindest 4/6, denn die zwei Jüngsten haben ja kaum Screentime und in der jeweils einen wirklichen Story, die sie während der Staffel mal in den Vordergrund gerückt hat, waren sie eher Gegenstand der Ereignisse als aktive Rolle, was besonders für Liam gilt. Das heisst als Kritik aber nur, dass sie eben kaum aufgefallen sind, womit ich auch nicht wirklich Negatives finden konnte. Carl hat in seiner Rowdie-Thema Folge immerhin dazu gedient eines der eindrücklichsten Bilder des Gallagher-Clans zu zeigen: erst schwer ins Gebet genommen über seine Verhaltensfehler und am Ende in seiner brutalsten Tat mit positiver Bestärkung überhäuft, auf Händen getragen und gefeiert. Das empfand ich als tolles Bild für die Situation und auch Fionas Grenzen. Sie mag den Laden mit voller Selbstaufopferung knapp über Wasser halten, aber pädagogisch ist sie auch bedenklich.
Schon beim drittjüngsten Spross dreht sich das Bild aber deutlich. Debbie hat viel mehr Screentime und ist eine Wucht, als Schreib- und Schauspielleistung gleichermaßen. Dabei hat sie mich sehr positiv an Abigail Breslin aus Little Miss Sunshine erinnert. Zwar war ihre erste größere Storyline um die "Kindesentführung" einer der konstruiteren der Staffel (und hätte nur etwas mehr auf Comedy getrimmt auch bei Malcolm in the middle laufen können), hat das aber mit viel Charme wieder ausgeglichen.
Ian ist gleich das nächste Highlight und wird im positivsten Sinne zu recht als der Anti-Kurt unter den aktuelleren schwulen TV-Charakteren bezeichnet. Besonders hat mir seine weitgehend unausgesprochene Distanzierung von Kesh gefallen, die sich aber in kleinen Details und Gesten sehr subtil und stimmig ausgedrückt hat. Auch sein Unbehagen bei der Vatersuche fand ich toll. Mit seinem ROTC Dienst hat man für die kommenden Staffeln auch schon eine schöne Grundlage für eine "don't ask, don't tell" storyline.
Lip ist der wahrscheinlich geradlinigste Gallagher, der eher selten mit inneren Konfikten konfrontiert wurde. Erst mit dem Auftauchen von Monika und während Karens freak out phase hat auch er größere emotionale Tiefe gezeigt, was sonst stimmig unter seiner smart boy Oberfläche blieb. Was aber nicht heisst, dass er nicht schon vorher einige der besten Dialoge und Szenen hatte. Vor allem gleich zu Beginn hat er toll mit Ian funktioniert.
Fiona wurde ja bereits in der letzten Folge selbst von Veronica erschöpfend charakterisiert. Sie braucht es, gebraucht zu werden, unverzichtbar zu sein und die Verantwortung zu schultern. Da mischt sich bedingungslose Familienliebe mit einem Helfersyndrom und ganz viel "ich schaff das schon" Stolz. Gerade letzterer schlug ja Steve immer wieder voll ins Gesicht, wenn er diesen Stolz mit zu großen Geschenken verletzt hat.
Im Monika-Part der Staffel war sie (also eigentlich Emily Rossum) schlicht phänomenal wie die ganze Folge selbst. Das war einfach Szene für Szene ein emotionales Erdbeben mit einer solchen Brillanz und Glaubhaftigkeit in jeder Charakterrührung, dass es mich wirklich umgehauen hat. Allein
diese Stelle - WOW!
Die Kritik an Steve hier kann ich nicht ganz teilen. Denn er ist ja nun wirklich nicht der white knight on a horse. Das gibt er am Anfang vor zu sein, aber das Bild kann er selbst mit großem Geld nicht aufrecht erhalten. Dafür stellt er es aber auch oft nicht besonders clever an, was meiner Meinung nach aber genau so in der Rolle gewollt ist. Kevin stößt ihn ja sogar irgendwann zur Staffelmitte mal mit der Nase drauf, dass er mit seiner großzügig hofierenden, aber dann aus der Gentlemen-Fassade immer wieder unsicher ausbrechenden Art bei Fiona falsch liegt. Sonst finde ich ihn - gerade in Kontakt mit den anderen Gallaghers - sehr sympathisch. Tony dagegen - uähh. Schon dieses penetrante Perlweiss-Grinsen - dem haben die doch LEDs in den Mund gestopft, oder? Der ist viel zu sehr weichspül-bubi, der glatt Seventh Heaven entsprungen sein könnte (im Ernst: der hat genau den Look wie alle Typen in der Show!), um auch nur ansatzweise zu Fiona zu passen. Und Fiona lässt ihn ja auch am langen Arm verhungern, nimmt seine Aufmerksamkeiten höflich entgegen, aber zeigt doch sonst kaum wirkliches Interesse, weil er nicht der leidenschaftliche Typ Mann ist, den sie braucht. Nein, Tony möchte ich nächste Staffel nicht mit ihr zusammen sehen. Vielleicht ist der eher was für Ian :lol: Der kann ihn auch mit Engelsgesicht bezirzen und ihn dann wie bei Kesh gesehen tougher als gedacht toppen
Bleibt noch Frank, der als wirkich schlechtester denkbarer (nicht gewalttätiger!) Vater aller Zeiten herrlich hassenswert ist und trotzdem so viel Spass macht. William H Macy ist göttlich in dieser Rolle, seine Reden oder eher rants in der Bar einfach nur toll, die ganze Lebensperspektive des vollendeten Taugenichts und verlotterten Säufers, der keine Skrupel hat seine Kinder zu bestehlen und dann der Gesellschaft die Schuld zu geben ist bis ins kleinste Detail stimmig. Wenn er sich dann als Parasit auch noch bei Sheila einnistet und für seine Bequemlichkeiten und ein paar Kröten für den Suff sogar fiese Analqualen einsteckt, geht Shameless mit schrägem Witz over the top ohne aber je den Bogen zu überspannen.
Das faszinierende an der Show ist, dass die Charaktere tatsächlich durchweg dermaßen gut geschrieben und gespielt sind, dass selbst die ausgefalleneren Storys für mich immer noch glaubhaft und überzeugend rüberkamen. Dazu trägt auch der ganze Look deutlich bei. Als ich vorhin noch ein paar Youtube-Schnipsel vom UK-Original gesehen habe, wirkte das doch ganz deutlich kulissiger und gespielter. Die handwerkliche Umsetzung ist mit einem Showtime Budget natürlich schon hochwertiger, aber hier ist es gerade das durch tolle Kameraarbeit und Schnitt erzeugte Mittendrin-Gefühl, das die Authentizität des turbulenten Gallagher Haushalts so perfekt einfängt. So stark sogar, dass die Show für mich scheinbar mühelos mit den besseren Independant-Kinofilmen der letzten Jahre mithalten kann, ohne zu krampfig einen auf "Sundance" zu machen (wie zB Adventureland).
Die kleineren Einzel-Kritikpunkte, die es vielleicht in einigen Folgen gab, sind mir bei dem Tempo, mit dem ich jetzt durch die Staffel gesuchtet bin, kaum mehr präsent. Eine Ausnahme bildet da vielleicht der verlorene Cliffhanger mit Veronicas Bruder. Da habe ich sogar die nächste Folge angehalten, weil ich dachte, ich hätte versehentlich eine Episode übersprungen. Ein anderer kleiner Punkt ist die nicht ganz konsistente Charakterisierung von Debbie. In der ersten Staffelhälfte war sie noch deutlich kindlicher und naiver, siehe die Kindesentführung und ihre sentimentale Bindung an die falsche Tante. Das wäre der deutlich abgeklärteren Debbie der zweiten Staffelhälfte nicht so leicht passiert.
Aber das ist schon ziemliches nitpicking in einer Staffel, die mich wirklich hingerissen hat. Ich kann hier kaum mehr zu einem wirklich objektiven Urteil kommen, weil ich diese Familie einfach dermaßen schnell ins Herz geschlossen habe. Gerade Lip, Ian, Fiona und Debbie haben eine unglaubliche Chemie und überzeugen mich einfach mit sich wirklich echt anfühlender Geschwisterdynamik. Selbst der Supporting-Cast leistet sich keine Schwächen und Joan Cusack hat Preise verdient.
Hätte ich das ganze jetzt im Wochenrhythmus gesehen, wären mir vielleicht ein paar kleinere Schwächen mehr haften geblieben, für die ich dann winzige Abzüge geben würde, aber das juckt mich grad alles nicht. Shameless wird wegen seines tollen Humors zwar mehr in die Dramedy-Ecke gesteckt, hat in meinen Augen aber intensiveres und stärkeres Drama zu bieten als selbst ein ähnlich over the top angelegtes Breaking Bad. Deshalb klau ich für mein Fazit (zumindest bis zum Start von Damages S4) auch mal den großen Fanboy-Satz jener Show, wenn ich sage:
best show on TV
10/10