- Di 11. Nov 2014, 15:08
#1397135
...dass der Wissensstand bei Depressionen und die Fähigkeit, journalistische Texte zu interpretieren, teilweise unfassbar dürftig ist.
Momentan führe ich mit meinen Kollegen eine Studie durch, in der wir hauptsächlich zufällig ausgewählten, aber immer studentischen Probanden einen Text aus einer großen, seriösen Tageszeitung vorlegen, in der über eine neue Heilmethode für Depressionen berichtet wird. In dem Text wird die neue Heilmethode gelobt und anhand eines Fallbeispiels erklärt. Aufgabe der Probanden ist es, zu diesem Artikel einen Kommentar zu verfassen, wie es in Internetforen dazu auch möglich ist. In der Erstellung des Kommentars waren die Probanden frei.
Erwartet haben wir ein Sammelsurium an Texten, die sich vielleicht über den Text an sich auslassen (Schreibstil, Fehler, Meinungen über die Zeitung an sich), die die Methode loben oder kritisieren oder vielleicht auch einfach Fragen stellen. Herausgekommen ist dagegen ein Sammelsurium an Texten, die zwar manchmal tatsächlich persönlich über eigene depressive Erfahrungen berichten und auch kritisch mit dem Text umgehen (Fragen zu Nebenwirkungen, mögliche Placeboeffekte, Frage nach Langzeitstudien).
Die meisten Texte allerdings sprechen depressiven Menschen nahezu ihren gesunden Menschenverstand ab. Man solle sich nicht so haben. Man spiele nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Höhepunkt ist ein Kommentar, in dem ein Proband schreibt, dass sich depressive Menschen doch bitte zusammenreissen sollen, weil es die Trümmerfrauen im zweiten Weltkrieg auch geschafft haben.
Ich bin nach fast hundert Kommentaren, die wir hierzu bereits haben, großteils erschüttert. Es sind Studenten! Es ist ein harmloser medizinischer Text! Und dennoch hat kaum einer den Text kritisch hinterfragt, scheint kaum jemand wenigstens ein Grundwissen zu Depressionen zu haben und hat kaum jemand in irgendeiner Form verstanden, dass der im Text geschilderte Fall ein Fall war, der aber nicht gleich auf andere schließen lässt. Stattdessen werden durch die Bank depressive Menschen diskriminiert, beleidigt und vor allem: nicht ernstgenommen.
Wir haben so viel Glück auf dem Gewissen.