- Di 3. Okt 2006, 13:01
#197711
Als Einleitung empfehle ich diesen Beitrag zu lesen.
LOB DER EINHEIT
Richard Schröder zum 3. Oktober 2006
Wenn Journalisten nach dem Stand der deutschen Einheit fragen, lautet die erste Frage: "Was ist falsch gelaufen?" und die zweite: "Wann ist die deutsche Einheit vollendet?" Neuerdings sind Bücher erschienen, die behaupten, die deutsche Einheit sei gescheitert. Seltsamerweise stellen sich die Verfasser als Märtyrer der Wahrheit dar gegen ein Kartell des Verschweigens, obwohl doch in den letzten 15 Jahren über die deutsche Einheit mehr gejammert als gejubelt wurde.
Zunächst wurde vor allem im Osten gejammert. Denn die Vereinigung brachte nicht das erwartete Wirtschaftswunder, sondern den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft. Es gab Anzeichen von Ost-Nostalgie, kurz Ostalgie genannt. Inzwischen ziehen die Wessis nach. Der Einigungsprozess wird öffentlich vorrangig von Westdeutschen kritisiert. Sie halten die neuen Bundesländer für ein Fass ohne Boden. Und sie beklagen sich über ostdeutsche Undankbarkeit: Die leben von unseren Milliarden und wählen PDS oder NPD. Die sind passiv, staatsgläubig, ausländerfeindlich. Eine neue Gattung ist entstanden, die besserwisserischen Jammerwessis, die West-Nostalgie pflegen. Motto: Wie war es doch so schön, als uns die Mauer noch vor der östlichen Armut schützte.
Aber mit welchem Maßstab messen wir den Vollzug der Einheit? Wer vom Scheitern der deutschen Einheit spricht, legt einen Maßstab von Einheit, sprich Einheitlichkeit, an, wie ihn die Romantiker erträumt haben, oder er nimmt sich die deutschen Diktaturen zum Vorbild. Die haben zwar von der Volksgemeinschaft oder der sozialistischen Menschengemeinschaft geschwärmt, aber um den Preis, dass die Rassenfeinde dort und die Klassenfeinde hier ausgeschlossen wurden.
Wir müssen uns Gedanken darüber machen, welches Bild von dem Einigungsprozess wir der nächsten Generation, die die Jahre 1989/90 nicht bewusst erlebt hat, vermitteln wollen. Dazu brauchen wir Maßstäbe. Ich kenne vier brauchbare Maßstäbe.
Erster Maßstab: Wie wird der Stand der deutschen Einheit von außen, also von Ausländern beurteilt? Ein Italiener hat bemerkt, sie sei weiter fortgeschritten als die italienische. Er hat recht. Sie ist auch weiter fortgeschritten als die belgische. Es gibt in Europa hier und da separatistische Tendenzen, im Baskenland, in Nordirland, bloß nicht in Deutschland. Die Tschechen und Slowaken und die Völker der Sowjetunion haben die neue Freiheit dazu gebraucht, sich schiedlich-friedlich zu trennen. Jugoslawien ist in einem brutalen Bürgerkrieg zerfallen. Wir haben uns vereinigt. Der nationale Zusammenhalt ist stabil. Nicht einmal die PDS fordert die Wiederherstellung der DDR. Sie hat auf ihre Weise eine Vereinigung vollzogen. Die Mehrzahl ihrer Bundestagsabgeordneten sind jetzt Westdeutsche.
Zweiter Maßstab: Einheit in der deutschen Geschichte. Deutschland ist schon immer durch markante Unterschiede geprägt und hat es gelernt, mit ihnen zu leben. Die traditionellen Unterschiede in Deutschland sind stärker nord-südlich als west-östlich ausgerichtet, übrigens auch in den neuen Bundesländern. Mecklenburg und Brandenburg waren auch früher vorrangig agrarisch und dünn besiedelt, Sachsen und Thüringen handwerklich-industriell bestimmt. Deshalb sind auch heute die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ostfriesen und Bayern größer als zwischen Thüringern und Hessen oder Schleswig-Holsteinern und Mecklenburgern. Gegenüber den tausendjährigen Nord-Süd-Unterschieden sind die Ost-West-Unterschiede jung. Sie sind allerdings nicht nur landsmannschaftlich, sondern durch verschiedene politische, ideologische und wirtschaftliche Lebensverhältnisse bestimmt. Aber je mehr sie verblassen, umso deutlicher werden die alten Nord-Süd-Unterschiede auch im Osten. Dass es mit der Einheit gut bestellt ist, belegt auch ein Umstand, den wir meistens beklagen: Leider gehen viele Ostdeutsche in den Westen, der Arbeit oder der Ausbildung wegen. Sie haben aber dort überhaupt keine Integrationsprobleme.
Dritter Maßstab: die anderen ehemals sozialistischen Länder. Wir reden in der Regel nur von der deutschen Einheit, wenn es um die letzten 16 Jahre geht, und übersehen dann, dass die deutsche Vereinigung nur einer von vielen Prozessen ist, die sich in Ostdeutschland seit 1989 vollzogen haben, nämlich das Ende einer Diktatur durch eine Revolution, die Bewältigung der Folgen dieser Diktatur und ein technologischer Aufholprozess. Dieselben Prozesse aber mussten alle ehemals sozialistischen Länder durchmachen, allerdings ohne Vereinigung mit einem reichen westlichen Land.
Dieser Vergleich wird in Ost und West vermieden. Westdeutsche pflegen zu fragen: Warum sind die Ostdeutschen immer noch so anders als wir? Und Ostdeutsche fragen: Warum haben wir noch immer die höhere Arbeitslosigkeit, niedrigere Einkommen und längere Arbeitszeiten? Beide vergleichen sich aneinander - und sind unzufrieden. Beide übersehen das Ausmaß der Aufgaben, die mit dem Ende des Sozialismus gestellt waren, politisch, wirtschaftlich und mental. Deshalb übersehen sie auch, was bisher Beachtliches geleistet worden ist. Stattdessen pflegen beide Seiten die hohe Kunst, sich armzurechnen. Denn nichts ist in Deutschland begehrter als der Opferstatus. Dann hat man nämlich Anspruch auf den Opferbonus. Nur wer klagt, gewinnt.
Überall in den früheren Ostblockstaaten war der Transformationsprozess mit schweren wirtschaftlichen Verwerfungen verbunden. Überall sitzen postkommunistische Parteien in den Parlamenten, öfter auch in Regierungen. Überall sind Wahlverhalten und Wahlbeteiligung sehr wechselhaft. Überall gibt es leider auch nationalistischen Radikalismus. All das und mehr erscheint vielen Westdeutschen als typisch Ost, ist aber in Wahrheit typisch posttotalitär. Bei diesem Vergleich schneidet Ostdeutschland sehr gut ab. Dank der Vereinigung konnten die Schmerzen dieses Prozesses in Ostdeutschland erheblich abgefedert werden. Von allen ehemals sozialistischen Ländern hat Ostdeutschland den höchsten Lebensstandard und die beste Infrastruktur.
Vierter Maßstab ist der Vergleich mit unserem Leben in der DDR. Wir Ostdeutschen sollten uns endlich einmal eingestehen, dass wir den Zusammenbruch des Sozialismus äußerst glimpflich überstanden haben, dank der deutschen Einigung. Bewusst wird uns das, wenn wir unsere Lebensbedingungen mit denen in der DDR vergleichen. Da ist der Freiheitsgewinn, und ich denke dabei nicht zuerst an die Reisefreiheit, sondern an die Freiheit von der Angst vor Verhaftung. Zum 9. Oktober 1989, nach der Jubelfeier des 40. Jahrestags der DDR, war alles vorbereitet, um die Leipziger Montagsdemonstration gewaltsam niederzuschlagen. Es kam aber kein Einsatzbefehl aus Berlin, und die Sicherheitskräfte zogen sich zurück, weil sie befürchteten, mit der unerwartet hohen Anzahl von Demonstranten nicht fertig zu werden.
Und die ökonomische Seite? Es stimmt ja: Im Vergleich mit dem Westen ist die Arbeitslosigkeit im Osten doppelt so hoch. Es gibt aber noch eine andere Messzahl, nämlich die Beschäftigungsquote. Da wird gemessen, wie viel Prozent der Bevölkerung einen Arbeitsplatz haben. Das sind im Westen 45 Prozent und im Osten 43 Prozent. In Thüringen liegt die Beschäftigungsquote höher als in Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen. Die höheren Arbeitslosenzahlen im Osten hängen auch damit zusammen, dass im Osten mehr Frauen berufstätig sein wollen. Ich kritisiere das nicht. Ich wende mich nur dagegen, die Unterschiede zum Beweis zu nehmen, wie sehr der Osten vernachlässigt werde. Eine Revolution, den Zusammenbruch eines Staates und einer Wirtschaft ohne eine Phase der Unsicherheiten, das kann es nun wirklich nicht geben.
Die großen Probleme, die wir heute haben, sind gesamtdeutsche Probleme, die sich allerdings im Osten meist etwas verschärft darstellen. Wir Ostdeutschen sollten aber endlich damit aufhören, uns deswegen als Bürger zweiter Klasse, als vernachlässigt und ungerecht behandelt zu beklagen. Die meisten Menschen dieser Welt würden sofort ihre Probleme gegen unsere eintauschen. Deshalb versuchen ja viele, unter Lebensgefahr nach Europa zu kommen. Wir jammern auf sehr hohem Niveau, meinen es aber andererseits damit auch nicht so ernst. Denn Umfragen im Osten ergeben regelmäßig ein seltsames Ergebnis. Fragt man nach der Lage im Osten allgemein, sagen viele, sie sei schlecht. Fragt man nach der persönlichen Lage im Osten, sagen viele, sie sei gut oder "Kann nicht klagen". Da stimmt doch was nicht. Über ihre eigene Lage werden sie sich wohl nicht täuschen. Die allgemeine Lage im Osten kennen sie nur aus zweiter und dritter Hand.
Seit dem 3. Oktober 1990 lebt Deutschland erstmals in seiner Geschichte in allseits anerkannten Grenzen, umzingelt von Freunden. Immer gab es irgendwelche offenen Rechnungen. Im Kalten Krieg war Deutschland das vorgesehene Schlachtfeld. So komfortabel wie heute war Deutschlands Lage zuvor nie. Warum soll das kein Grund zum Feiern sein? Überstandene Gefahren aber vergessen Menschen schnell.
Wir sollten uns die Freude an der deutschen Einheit nicht vermiesen lassen. Auch dann nicht, wenn wir über unsere Probleme reden. Aber wie wird geredet an den Stammtischen West und Ost? Was da so erzählt wird, ist nicht immer druckreif und oft von Sachkenntnis ungetrübt. Aber auch Stimmung macht Politik.
Stammtisch West: Die im Osten sollen erst mal richtig arbeiten lernen. Antwort: Von 1991 bis 1998 sind im Osten achthunderttausend Unternehmen, meist kleine, gegründet worden. Das spricht für Unternehmergeist und Risikobereitschaft. Allerdings musste im selben Zeitraum etwa die Hälfte aufgeben. Wenn aber ein Ostunternehmen erfolgreich ist, ist's manchen auch wieder nicht recht. Piko (Ost) baut erfolgreich Modellbahnen und expandiert. Märklin (West) bekommt die Konkurrenz zu spüren und muss Arbeitsplätze abbauen. Prompt heißt es am schwäbischen Stammtisch: Man sollte die Mauer wieder hochziehen.
Immer wieder wird die Öffentlichkeit von unvorstellbaren Grausamkeiten schockiert. In Hamburg hat ein Paar sein Kind verhungern lassen. Bei Frankfurt (Oder) hat eine Frau neun Neugeborene getötet. Niemand kommt auf die Idee, den Hamburger Fall als typisch West einzuordnen. Aber der Ost-Fall wird als typisch Ost diskutiert. Es gibt im Westen einen Hang zur Ost-Ethnologie. Man findet da drüben alles, was man selbst nicht sein möchte. Der Osten dient als Projektionsschirm eigener Ängste.
Und am Stammtisch Ost? Natürlich, auch im Osten ist die Demokratie im Alltag akzeptiert. Die kommunale Selbstverwaltung und die Landesparlamente funktionieren. Aber Politikerverdrossenheit, Demokratieverdrossenheit und DDR-Nostalgie - kurz die schlechte Laune im Osten - sind gar nicht harmlos. Wenn alles schlecht sein soll, finden diejenigen Gehör, die das Blaue vom Himmel versprechen. Die ostdeutsche Unzufriedenheit, die oft jedes vernünftige Maß übersteigt, ist der Nährboden für die extremen Parteien, namentlich für die rechtsextremen. Wer nicht zur Wahl geht, weil, wie er behauptet, sich ja doch nichts ändert, kann fatal überrascht werden. Von geringer Wahlbeteiligung profitieren immer die Radikalen. Wer aus Trotz wählt, die Trotzwähler also, sie spielen ein gefährliches Spiel. Sie wählen nicht die Partei, der sie die Lösung der Probleme zutrauen, sondern wollen die anderen Parteien bloß ärgern. Plötzlich sitzt die NPD in Landesparlamenten, und keiner will sie gewählt haben. Trotzwahlverhalten ist kindisch. Aber warum ist die NPD nun bereits in den zweiten ostdeutschen Landtag eingezogen? Die Motive der Wähler werden wohl nicht viel anders sein als die der Wähler, die seinerzeit der NPD den Einzug in sieben westliche Landtage ermöglicht haben.
Es gibt also keinen Grund für westdeutsche Selbstgerechtigkeit. Es ist ja kein persönliches Verdienst, im Westen geboren zu sein unter den freundlicheren Besatzungsmächten, die euch zum Grundgesetz gedrängelt haben. Statt dafür dankbar zu sein, machen viele Westdeutsche Vorhaltungen. Warum sind die Ostdeutschen nicht dankbar?, fragen sie. Im Klartext soll das heißen: Uns müssen sie doch dankbar sein für so viel Hilfe. Sie möchten sich einseitig als Wohltäter anerkannt sehen.
Undank ist verletzend, das ist wahr. Aber die Einforderung von Dankbarkeit ist der Tod jeder Beziehung. Wer Dankbarkeit einfordert, fordert Unterwerfung und verhindert damit, was er erwartet. Denn echte Dankbarkeit gibt es nur in Freiheit, in einer Beziehung wechselseitiger Anerkennung. Im Alltag wissen wir das. Wenn uns jemand dankt, sagen wir "Keine Ursache". Wir wehren den Dank ab. Oder sagen: "Gern geschehen". Da steckt Weisheit drin.
