str1keteam hat geschrieben:Ich rede von professionellen US-Kritiken. Nicht von Foren.
"Profesionelle Kritiken" bilden ja nicht allein die öffentliche Wahrnehmung ab. Auf "The Wire" wurde ich vor ca. vier Jahren auch nur durch einen eloquenten und leidenschaftlichen Beitrag in einem anderen Forum aufmerksam, vorher hatte ich von der Serie nicht mal was gehört. Und in spezialisierten Foren wie diesem liest man auch nicht selten interessantere und treffendere Beiträge zu einzelnen Produktionen, als man sie von so genannten Kritikern findet.
str1keteam hat geschrieben:Die meisten japsen vor Begeisterung und die großen Preise (von den Critics Choice Awards über die Emmys bis zu Globes) hat MM ja auch 3 Jahre dominiert wie nie ein Drama zuvor.
Ich bezweifle allerdings, dass dies auch zu Zeiten der großen HBO-Serien à la "Sopranos" und "Six Feet Under" so gewesen wäre.
str1keteam hat geschrieben:
Nicht falsch verstehen. Subjektiv finde ich die Sopranos noch eine Ecke besser (klarer All Time Top 10 Kandidat), aber seit Staffel 4 wird Mad Men in vorher nur bei The Wire gekannter Form als anspruchsvolle Kunst gehuldigt.
Soweit ich weiß, schossen die Lobeshymnen zu den "Sopranos" bereits seit der ersten Staffel aus dem Kraut. Dagegen wurde "The Wire" meines Wissens erst vergleichsweise spät von vielen Kritikern entdeckt.
str1keteam hat geschrieben:
Mit möglichst schockierender Gewalt kennen sich die Sopranos (und Deadwood, Rome oder Breaking Bad) auch gut aus.
Allerdings als Stilmittel und nicht so gewollt provokant, wie es die "Shield"-Autoren bei ihren Sitzungen im erwähnten Bonusmaterial auch spürbar raushängen lassen - Zitat während des Brainstormings zu einer Geschichte mit einem brutalen Vergewaltiger: "Another Shield homerun." Und man merkt der Serie auch deutlich an, dass sich die Autoren gerne in ihren Gewaltorgien suhlen.
str1keteam hat geschrieben:Da ist der Denkfehler. The Shield hat den Mut seinen soziopathischen Antihelden immer wieder ungeschönt ohne Maske zu zeigen. Jemand, der im Familienleben und nach außen hin viele sympathische Züge offenbart, aber letztendlich doch sich als Mittelpunkt der Welt sieht und sogar scheinbar selbstlose Taten nur aus eigennützigen Motiven begeht.
Alles eine Frage der Glaubwürdigkeit: Einem Vic Mackey nehme ich seine sympathischen Züge weniger ab als einem Tony Soprano, sie wirken mir etwas aufgesetzt (z. B. durch das Schicksal mit den autistischen Kindern). Und in manchen Fällen auch nicht stimmig: So halte ich den Polizistenmord am Ende von Folge 1 für überzogen, das passt im Vergleich zum weiteren Verlauf selbst zu Vic nicht. Aus meiner Sicht ein ziemlich plumper Knalleffekt, um beim Zuschauer direkt mit der Tür ins Haus zu fallen.
str1keteam hat geschrieben:Tony Soprano wurde bis zum hinterhältigen Mord an Christopher immer als charismatischer und leicht zu mögender Kerl gezeigt, der zwar hemmungslos brutal und unfair sein kann, aber letztlich nur so handelt wie es sein "Beruf" verlangt. Erst in Staffel 6 wurde er dann als Soziopath hingestellt, (...).
Sehe ich anders und kenne allein in meinem Umfeld diverse Leute, die bei Tony schon in den früheren Staffeln ständig zwischen Sympathie und Abneigung schwankten. Ist ja auch kein Wunder bei seinem Problem mit dem Zorn, den er nicht in den Griff bekommt. Da sind auch nicht alle Gemeinheiten nur durch seinen Job zu erklären.
str1keteam hat geschrieben:
Deadwood hat einen kleineren Fokus, aber letztlich doch noch mehr über das amerikanische Seelenleben verraten.
In "The Wire" geht's ja weniger um uramerikanische Befindlichkeiten als um die Verhältnisse in den heutigen Institutionen (und die Auswirkungen auf den Einzelnen). Das sind schon unterschiedliche Ansätze.
str1keteam hat geschrieben:
Boardwalk Empire hat alle Anlagen die Stärken von Sopranos, Deadwood und The Wire zu vereinen.
Mal abwarten. Die ersten sechs Folgen der ersten Staffel von "Boardwalk Empire" hab ich mir kürzlich angesehen und bin bisher auch recht angetan. Bin aber emotional noch längst nicht so reingerissen worden, wie es zu diesem Zeitpunkt schon bei den "Sopranos" oder "Six Feet Under" der Fall war. Mal sehen, ob das mit fortlaufender Handlung noch kommt, oder ob da immer eine gewisse Distanz bleiben wird.
str1keteam hat geschrieben:
Damit (und den Träumen und Kindheitserinnerungen) hat man es sich aber auch einfach gemacht (toll fand ich die trotzdem) und Charaktereigenschaften offen in Worten und Bildern erklärt, die The Shield nach dem Motto "Show - don't tell" bzw "Beurteile den Mann nach seinen Taten und nicht seinen Worten" offenbart hat.
Bei den "Sopranos" findet ja beides statt - sowohl durch Taten als auch durch Worte, Letzteres fehlt bei "The Shield" nur eben weitgehend. Die "Sopranos" verlangen vom Zuschauer auch ein gewisses Maß an Empathie; da finden sich Hinweise auf den Gemütszustand der Figuren oft in Nuancen von Mimik, Gestik oder Gesagtem. So ist z. B. die Demütigung einzelner Figuren - eines der Kernthemen der Serie - in einigen Szenen nur durch einen Blick in die jeweiligen Gesichter zu erkennen.
str1keteam hat geschrieben:
Man weiß nichts über die Vorgeschichte von Vic oder Shane, das Familienleben bekommt nur einen Bruchteil der Screentime und doch kennt man die Motivationen und Ängste der Charaktere am Ende der Reise ebenso gut wie bei Tony, der 6 Jahre seine intimsten Ängste ausgesprochen hat.
Nun isses aber auch nicht so, als seien die Gründe für das Verhalten eines Vic oder Shane besonders komplex. Shane beispielsweise wird ja letztlich immer als einfältiger Heißsporn präsentiert, der deshalb ständig Mist baut. Erst gegen Ende kommt noch die Sorge um seine Familie dazu, aber das erklärt sich aus ihrer Lage heraus quasi von selbst. Und von Vic weiß man auch nach Ende der Serie nicht viel mehr, als dass er ein soziopathisches Alphatier mit Kontrollsucht, strategischem Geschick und übergroßem Ego ist, dessen trotzig-reaktionäre Weltsicht offenbar immer über seine nachdenklichen oder fürsorglichen Momente siegt (siehe auch letzte Kameraeinstellung).
Was ich bei den "Sopranos" in diesem Zusammenhang so großartig finde, sind z. B. Szenen wie die in Folge s01e10, als er seiner Therapeutin die Geschichte von dem Jungen erzählt, den er und seine Freunde zu Jugendzeiten immer getriezt und veräppelt haben. Und am Schluss dieser Geschichte dann sagt:
"Aber ich hab auch nie richtig verstanden, was er gefühlt hat - so benutzt zu werden, zum Vergnügen von irgendwem, wie so ein beschissener Tanzbär. Bis ich golfen war mit diesen Kerlen."
Natürlich ist das nicht besonders subtil in der Form, bringt einem den Charakter aber umso näher. Ein brutaler Mafia-Boss sitzt bei seiner Therapeutin und reflektiert über seine Demütigungen - wenn man diesen Satz so liest, würde man das wahrscheinlich erst mal für eine Parodie halten. Aber James Gandolfini vermittelt die unterschiedlichen Gefühlsregungen seiner Figur jederzeit so glaubhaft, dass man nicht nur mitleidet, sondern manche dieser Situationen auch in sich selbst erkennt. Das sind für mich Momente von so emotionaler Wucht, wie sie bei "The Shield" kaum vorkommen.
str1keteam hat geschrieben:während The Shield (und Sons of Anarchy) direkt ins Blut geht und den Bauch gleichermaßen wie den Kopf anspricht.
Zu "Sons Of Anarchy" kann ich nix sagen (kenne bisher nur die erste Folge), aber bei "The Shield" kann ich das mit dem Kopf so nicht unterschreiben. Dafür ist mir die Serie zu sehr auf Spannung und Action getrimmt als auf Charakterdrama, auch wenn es immer mal Elemente davon hat.
str1keteam hat geschrieben:(Hauptsächlich die weiblichen Figuren. Praktisch alles rund um Tonys Schwester. Da war das Ende der Ralphie Storyline fast schon die einzige Ausnahme. Die Mutter hat auch höllisch genervt, aber die war trotzdem ein hochinteressanter Charakter.)
Der Witz ist doch, dass gerade die nervigen Charaktere oft zum Unterhaltungswert der Serie beitragen: Ein Großteil des Humors basiert ja darauf, dass Tony mal wieder von irgendwas genervt ist - von seiner Familie, seiner Gangsterbande oder irgendwelchen Umständen. Wahrscheinlich hat es in der gesamten Film- und TV-Geschichte keinen überzeugenderen Genervten gegeben als ihn - und gerade eine Figur wie die Mutter trägt ja reichlich dazu bei. So sind die "Sopranos" noch ganz nebenbei auch eine Satire und in manchen Momenten witziger als die meisten Comedy-Formate (man denke nur an "Pine Barrens").
Was deine Kritik an einigem gefühlten Füllmaterial betrifft (wie manche Geschichten um Meadow oder Carmella), kann ich das verstehen, auch wenn ich das bei den meisten davon anders sehe. Und die Staffeln 6.1/6.2 haben insgesamt wohl die größten Schwachpunkte der Serie, mich aber zu 90 % immer noch gut unterhalten. Über die gesamte Strecke der Serie gibt es für mich so viele Momente, die ich in dieser Qualität noch nirgendwo anders gesehen habe, dass die Serie in meiner Rangliste immer noch vorne liegt.