Ghost hat geschrieben:Die eigenen Taten sind durch so viele Faktoren determiniert, dass man den Willen kaum wirklich als frei bezeichnen kann. Wenn du abgeschottet in einer streng konservativen religiösen Gemeinschaft aufwächst, dann nützt dir dein freier Wille auch nichts und du wirst die Bibel so verstehen, wie es dir beigebracht wurde.
Klar. Natürlich funktioniert das als Argument nur, soweit nicht irgendwelche Umstände das Handeln schon determinieren. Aber ich hab auch oft das Gefühl, dass "die Umstände" eine Ausrede sind. Klar prägt es einen, wie man aufwächst. Aber ist man nicht irgendwann mal in einem Alter, in dem man sich nicht mehr nur darauf berufen kann, sondern sich auch seine eigenen Gedanken macht und ein eigenes Gefühl dafür entwickelt, was richtig und was falsch ist? Sonst landet man doch zwangsläufig bei der vielzitierten "schweren Kindheit", die alles rechtfertigt. Also dass äußere Einflüsse und Prägung durch das Umfeld die eigenen Einstellungen und das Handeln beeinflussen - keine Frage. Aber man hat meiner Meinung nach immernoch in den meisten Fällen einen Spielraum, welche Entscheidungen man trifft.
Ghost hat geschrieben:"Gewissen" und "gesunder Menschenverstand" kann man ja auch unterschiedlich auffassen. Ich fände das auf jeden Fall schwierig, für mich zu legitimieren, welche Teile der Schrift ich nun für mich so umsetze und welche ich einfach ignoriere. Und wenn es um so Sachen wie "Du sollst nicht morden" geht, dann brauche ich keine Bibel, sondern nur meinen eigenen moralischen Kompass.
Wird die Moral dann eigentlich als universelles Prinzip gesehen und nicht als menschliches Konstrukt?
Natürlich ist das schwierig. Aber es geht ja wie gesagt meistens gar nicht um das Ignorieren, sondern um die Auslegung bestimmter Stellen. Und ich glaube, dass jemand, der sich seine Gedanken dazu macht und sein Gewissen oder wie auch immer man es letztendlich nennen will als Maßstab heranzieht mindestens genauso "Gnade findet", um es jetzt mal so richtig Holzhammer-religiös zu formulieren, wie jemand, der sich das alles vorkauen läßt (und dann im Zweifel immernoch sagen kann: Der Pfarrer/Priester/Papst hat aber gesagt...).
Und natürlich braucht man keine Bibel, um die Minimalregeln des menschlichen Zusammenlebens zu kennen und zu befolgen. Aber dieser "eigene moralische Kompaß" ist ja auch bei jedem Mensch etwas anders, von dem her ist es für ein funktionierenedes Zusammenleben sicher nicht schlecht, wenigstens solche minimalen Grundregeln festgelegt zu haben. Ob das jetzt die 10 Gebote oder andere gesammelte Regeln sind, ist ja letztendlich egal.
Ghost hat geschrieben:Was ist eigentlich mit anderen Religionen, die einem anderen Gott huldigen? Wie erklärt man sich, dass sich verschiedene Religionen in unterschiedlichen Regionen ausgebreitet haben, wenn es doch nur einen Gott gibt? Liegen die dann falsch?
Wenn du die Kirche fragst ja. Ich sehe das eher als verschiedene Ausprägungen des gleichen Gedankens. Oder um es mit einem Zitat aus dem Medicus zu sagen: "Ich stelle mir die Trennung zwischen Leben und Paradis (aka die Religion) als Fluß vor. Wenn es viele Brücken über den Fluß gibt, wird es Gott dann stören, welche Brücke der Reisende wählt?" Wenn Gott so allwissend und allmächtig ist, wie eigentlich alle Religionen glauben, kann zumindest ich mir nicht vorstellen, dass er gleichzeitig so beschränkt ist.
Ghost hat geschrieben:Die Erklärung mit einem freien Willen (wenn man ihn denn anführen will) kann man aber auch nur dann irgendwie anwenden, wenn es um menschliche Konflikte geht. Wenn ein Mensch durch einen anderen Menschen getötet wird, dann ist das die negative Konsequenz der Existenz eines freien Willens. Aber es gibt ja auch noch andere Todesursachen, dessen Auslöser kein Mensch sein muss: Unfälle, Naturkatastrophe, Krankheiten.
Klar. Da bleibt dann letztendlich wohl wirklich nur die Erklärung, dass wir nun mal nicht unsterblich sind. Wie oft hab ich in den letzten paar Jahren dafür gebetet, dass meine Großmutter ihre diversen Krankheiten mal wieder übersteht - obwohl ich natürlich weiß, dass es irgendwann vorbei ist. Man denkt sich immer "aber doch nicht jetzt, aber doch nicht ausgerechnet in meiner Familie/meinem Freundeskreis, da muss Gott doch eingreifen, wenn es ihn gibt". Ist ja auch menschlich absolut nachvollziehbar, und es geht wohl jedem so. Gleichzeitig hat das natürlich auch viel von Sankt Florian...
Ghost hat geschrieben:Warum ist die Vorstellung, dass das Leben das einzige ist, das wir haben, so frustrierend für so viele Leute? Ich stelle mir es weitaus frustrierender vor, wenn ich wüsste, dass ich nach meinem Sterben wieder da bzw. irgendwo bin und dann für alle EWIGKEIT (an die ich nicht glaube) existiere. Was ist an dieser Vorstellung so tröstlich? Hört sich eher qualvoll an. :lol:
Warum? Also zum einen kann ich tatsächlich den Gedanken gerade gar nicht nachvollziehen, warum es frustrierend oder sogar qualvoll sein soll, in irgendeiner Form weiter zu existieren. Die allermeisten Menschen wünschen sich doch ein möglichst langes, erfülltes Leben. Warum ist die Vorstellung, dass das dann auch nach dem Ende der Existenz hier noch in irgendeiner Form weitergeht, dann negativ? Das finde ich eigentlich schon eher tröstlich.
Und ein Leben nach dem Tod schließt es ja nicht aus, auch in diesem Leben Gutes zu tun, Menschen zu helfen, etwas für die Menschen hier zu hinterlassen. Das Leben nach dem Tod ist ja nicht das Ziel, so dass mich alles andere davor nicht wirklich interessiert, sondern es ist eine Fortsetzung von dem, was ich hier schon habe. Und die Vorstellung, dass nach dem Leben hier Schluß ist, macht das Leben für mich auch nicht wertvoller, eher im Gegenteil. Was ist denn dann wertvoll? Doch eigentlich nur der Augenblick bzw. die im Verhältnis extrem kurze Zeitspanne, die ich hier auf der Erde verbringe. Da bleibt vielleicht noch die nächste Generation, die ich eventuell hinterlasse. Oder irgendwas gutes, das ich für jemanden getan habe, gute Erinnerungen, die jemand an mich hat... Aber das ist doch so im "großen Ganzen" auch relativ wenig. Und außerdem frage ich mich dann auch (auch wenn das jetzt total unchristlich-egoistisch klingt): Was hab ich denn davon? Ich hab vielleicht was Positives hinterlassen - aber das bringt mir doch wesentlich mehr, wenn ich das auch noch weiter in irgendeiner Form sehen/verfolgen kann als wenn ich danach ein Häufchen Staub bin und das war´s. Also für mich ist da relativ klar, welche Vorstellung das Leben für mich wertvoller macht...
Und es geht ja auch nicht nur darum, dass man selbst weiterlebt, sondern es ist auch der Gedanke, dass auch die, die man im Lauf seines Lebens verliert, noch irgendwie da sind. Dass sie dich in irgendeiner Form weiter begleiten, vielleicht auch mal unterstützen, und auch dass man sie nach dem Tod wieder sehen wird. Also zum Beispiel nach dem Tod meines Großvaters (der der Mensch war, der mir neben meinen Eltern immer am nächsten stand) hat mir der Gedanke schon sehr geholfen.
Puh, man verzettelt sich da echt ganz schnell. Das macht mal wieder klar, woher der Ausdruck "über Gott und die Welt reden" kommt

Naja, letztendlich würde ich bei mir (um nochmal auf das "beliebig" im Zusammenhang mit Bibelauslegung etc zu kommen) sagen, dass ich gläubig, aber nicht religiös bin. Dass ich Christin bin, ist wohl zu einem sehr großen Teil schlicht dem Zufall bzw. dem Umstand, dass ich hier geboren bin, geschuldet. Aber davon, dass es da irgendwas über uns gibt - ob jetzt Gott, Allah, Buddha (ja, ich weiß, ist eigentlich kein Gott...) oder was auch immer, bin ich schon wirklich überzeugt. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum ich nicht das Gefühl habe, eng an irgendeiner Schrift "kleben" zu müssen.

Wir sind alle am Borsigplatz geboren...