Amazons Serien-Pläne: Das könnte Sie auch interessieren
Von Andreas Borcholte
In Deutschland bereits Marktführer: Mit Mega-Budget und selbst produzierten Serien und Filmen greift der Online-Supermarkt Amazon Konkurrenten wie Netflix an. Doch wie gelingt die Suche nach dem großen neuen Hit?
Roy Price ist selten um große Worte verlegen, aber es gibt Fragen, auf die er keine schnelle Antwort parat hat. Zum Beispiel die nach einem griffigen Slogan, den die Leute im Kopf haben sollen, wenn sie an Amazons Online-Streaming-Dienst denken? Price, seit fünf Jahren Chef von Amazon Studios und verantwortlich für die Eigenproduktionen des Internet-Supermarkts, zögert: "Die Zukunft des Fernsehens? Ich brainstorme hier! Vielleicht: 'Das, was du am meisten liebst in der Welt?'"
Keine Frage: Der Kalifornier, Abkömmling einer Fernsehproduzenten-Dynastie aus Hollywood, wurde von Amazon-Boss Jeff Bezos nicht umsonst mit einem Budget von angeblich 1,3 Milliarden Dollar ausgestattet. Im immer hitzigeren Verteilungskampf um die aufregendsten Fernsehstoffe, an dem nicht mehr nur Filmstudios und traditionelle TV-Sender, sondern vermehrt auch Streaming-Dienste wie Netflix oder Amazon maßgeblich beteiligt sind, geht es um die Frage, wer in den kommenden Jahren der größte Player sein wird.
Price gewann mit dem von Amazon selbst produzierten Transgender-Seriendrama "Transparent" zwei Golden Globes und feierte mit der exklusiven Ausstrahlung des "Walking Dead"-Ablegers "Fear The Walking Dead" einen Publikumserfolg, jetzt sollen die nächsten Schritte folgen. Seit Freitag ist die neue Serie "The Man In The High Castle" über Amazons Prime-Dienst abrufbar, und demnächst, vermutlich Anfang 2016, soll der erste eigenproduzierte Spielfilm folgen, Spike Lees Gangster-Drama "Chi-raq" mit Samuel Jackson und Wesley Snipes.
"Wir lieben den deutschen Markt"
Spektakuläre Summen zahlte Price, um den von der BBC geschassten britischen "Top Gear"-Presenter Jeremy Clarkson samt seiner beiden Sidekicks unter Vertrag zu nehmen. Deren neue Show soll ebenfalls 2016 starten. Und auch das Skript für die erste Staffel der noch unbetitelten Serie von Woody Allen, die der Kino-Neurotiker exklusiv für Amazon Studios dreht, ist bereits fertig, berichtet Price nicht ohne Stolz Ende Oktober beim Gespräch in München.
Vor allem die Allen-Serie dürfte ein entscheidender Baustein in der Strategie des Streaming-Portals sein, künftig nicht mehr nur als Online-Videothek mit günstigen Preisen wahrgenommen zu werden, sondern als Lieferant von Qualitätsstoffen, für die bisher vorrangig Konkurrent Netflix ("House Of Cards", "Orange Is The New Black") oder US-Kabelsender wie HBO ("Game Of Thrones", "Girls", "True Detective") oder AMC ("The Walking Dead", "Mad Men", "Breaking Bad") standen.
In Deutschland, wo Amazons Prime-Angebot seit rund eineinhalb Jahren angeboten wird und ein konkurrierender Streaming-Generalist wie das in den USA populäre Hulu fehlt, konnte sich der Onlinehändler bereits an der Marktspitze etablieren. Zahlen werden nicht veröffentlicht, es gilt jedoch als sicher, dass Netflix es mit seinem Monatsangebot von 7,99 Euro und zum Teil deutlich älteren Inhalten schwer hat, gegen den Amazon-Deal zu bestehen. Für 49 Euro im Jahr bekommt man rund 15.000 Serien und Filme sowie den 24-Stunden-Lieferdienst für im Online-Shop bestellte Waren. Für Top-Neuheiten muss man allerdings zusätzlich zahlen. Weltweit verfügt das Unternehmen über mehr als 270 Millionen aktive Kunden-Accounts, rund 25 Millionen aus Deutschland.
Der deutsche Markt sei sehr wichtig, sagt auch Jay Marine, Vize-Präsident von Amazon Instant Video und Roy Prices rechte Hand in Europa - und bestätigt, dass er bereits intensive Gespräche mit deutschen TV- und Filmproduzenten führt, um bald auch hierzulande als unabhängiger Anbieter auftreten zu können.
"Wir suchen im Moment noch nach dem richtigen Stoff", so Price. Als sie nach Deutschland kamen hätten ihn viele Leute gewarnt: Der deutsche Markt sei statisch und akzeptiere nur bestimmte, an Bekanntes angelehnte Formate. Zudem seien die Deutschen skeptisch beim Thema Pay-TV. "Ich glaube, diese Leute missverstehen deutsche Kultur: Jeder ist doch interessiert an Dingen, die neu, aufregend und andersartig sind, von denen man seinen Freunden erzählen will."
Der Kunde darf mitbestimmen
Um genau diese Serie oder diesen Film zu finden, bietet Price den Produzenten ein vor allem in Deutschlands TV-Landschaft rares Gut an: größtmögliche künstlerische Freiheit. "Wir können ihnen die Herausforderung bieten, etwas wirklich Neues zu machen - oder das, was sie schon immer machen wollten, aber wegen der bestehenden Strukturen nicht verwirklichen konnten. Ich glaube, diese Projekte schwirren da draußen herum. Lasst sie uns finden!"
Roy Price lässt solche Sätze mit lässiger Geste fallen, sein Lieblingswort ist "Eventizing": Jedes Amazon-Produkt muss im besten Fall auch ein Ereignis sein. Genau darin liegt aber ein virulentes Problem der Branche. 400 Serienformate kamen allein in diesem Jahr auf den amerikanischen Markt, eine schier unüberschaubare Zahl und ein überforderndes Angebot für den Konsumenten, der immer genauer aussuchen muss, mit welchen Stoffen er seine knappe Zeit verbringt. Die Herausforderung für Anbieter wie HBO, Netflix oder Amazon besteht also darin, den nächsten "game changer" zu finden, die Show, über die alle reden.
Amazons Vorteil: Das internationale Publikum darf mitbestimmen. In der sogenannten Pilot-Season werden Start-Episoden potentieller neuer Serien zur Abstimmung gestellt und können mit einem Sternchen-System bewertet oder im Forum diskutiert werden. In der kürzlich eröffneten neuen Saison präsentiert Amazon unter anderem die Western-Serie "Edge: The Loner", das Zelda-Fitzgerald-Biopic "Z" mit Christina Ricci in der Hauptrolle, die weibliche "Mad Men"-Variante "Good Girls Revolt", die Multiple-Persönlichkeiten-Sitcom "Highston" oder das Spionage-Drama "American Patriot".
Konversation am medialen Lagerfeuer
Doch nicht immer wird auch das in Auftrag gegeben, was in der Kundengunst am höchsten rangiert. Auch das Nischen-Drama "Transparent", bis heute Amazons größter Erfolg, gehörte in der damaligen Pilot-Season nicht zu den Massen-Favoriten. Die richtige Auswahl sei ein Balanceakt, sagt Roy Price: "Ich bin sehr glücklich, dass wir die Zuschauerumfrage haben, aber mit ihr fängt es erst an. Was sagen die Kritiker? Was wissen wir über den Rest der Staffel? Generell gucken wir nicht nach dem höchsten Ranking, sondern danach, welche Show die größte Leidenschaft generiert." Oft sei es besser, er habe einen Serien-Piloten, den 40 Prozent mit vollen fünf Sternen bewerten, 60 Prozent aber überhaupt nicht mögen, als wenn 95 Prozent ihn "ziemlich gut" finden. "'Ziemlich gut', sagt Price, "heißt dasselbe wie 'Ist mir egal'."
Um unter Hunderten von neuen Serien unter die Top Five zu gelangen, dürfe man nicht in Bequemlichkeit verfallen, sagt Price. Sender, die mit einer Show erfolgreich waren, neigten dazu, konservativ zu werden und dasselbe Muster immer wieder zu reproduzieren. Für Amazon wünscht er sich eine andere Haltung: Man müsse stets das Gefühl behalten, dass einem das Wasser bis zum Hals steht: "Bleib' unsicher, bleib' aufgeschlossen und auf der Suche, sonst wirst du untergehen."
Bisher macht keiner der aktuell gestarteten oder zur Wahl stehenden Amazon-Eigenserien den Eindruck, als wäre die nächste große Hit-Show dabei. Umso mehr wächst der Druck auf die angekündigten Prestige-Produkte: Spike Lees Film und Woody Allens Serie. Der Zuschauer profitiert inzwischen von der Konkurrenz-Belebung durch Amazons massiven Aufschlag, sie sorgt vielleicht dafür, dass Studios, Networks und Sender mehr Risiken als bisher eingehen und mehr interessanten und unorthodoxen Stoffen eine Chance geben, um sich aus der Massenware herauszuheben, im Kino wie im TV.
Im Buhlen um die Zuschaueraufmerksamkeit können sich auch althergebrachte Sendestrukturen auflösen, meint Price, denn fast noch wichtiger als Streaming-Abrufe oder Einschaltquoten sei heute der kollektive Austausch in den sozialen Medien, der "Buzz". Das stellt immer wieder die Frage nach der richtigen Darreichungsform: Hält man die Spannung aufrecht und den medialen Dialog im Gang, indem man von Woche zu Woche eine neue Episode zeigt - oder stellt man gleich die ganze Staffel zum sogenannten Binging bereit?
Alles auf einmal, das ist, genau wie bei Netflix, zurzeit Amazons Standard-Methode, die gut funktioniere. Es gebe aber durchaus Nachteile, so Price, daher denkt er bereits jetzt über Experimente nach: "Warum nicht alle zwei Wochen fünf Folgen zeigen? Auch das 'Sherlock'-Modell der BBC ist interessant. Ich bin sicher, dass wir über Episoden- und Staffellängen noch viel reden werden". Wenn Roy Price es richtig anstellt, könnte Amazon in der Konversation über das Fernsehen der Zukunft eine wichtige Stimme werden.