Oder fing jetzt erst alles an und ich sollte erst recht Angst haben? Angst, vor dem, was mich erwartet, im Gefängnis?
Erst nach einigen Minuten – schätzte ich jedenfalls, vielleicht waren es auch nur Sekunden – setzte ich mich hin. Die Matratze schob ich ganz an die Wand, zog die Beine an und wärmte mich, indem ich meine Unterschenkel rieb. Die Decken waren mir nicht so wirklich geheuer. Wer weiß, wer da schon druntergelegen hatte? Verdammt, aber kalt wir mir trotzdem. Also musste ich den Ekel wohl überwinden und mich zudecken.
Ich fror nicht nur, weil das Oberlicht auf Kipp stand. Auch die Wand, an der ich mit dem Rücken lehnte, war kalt. Eiskalt. Eiskaltgrau. Ich schob mir eine der Decken in den Rücken. Schon etwas besser. Die andere ließ ich trotzdem noch, wo sie war. Ein bisschen Stolz hatte ich ja auch noch… Okay, Stolz muss man sich erlauben können. Ich kapitulierte und legte mir die zweite Decke über die Beine.
Kalt war es trotzdem. Bewegen! Ich musste mich bewegen. Ich begann, in der Zelle auf und ab zu laufen. Schade, dass es keine Fliesen gab, die ich zählen konnte, auch kein anderes Muster. Bewegen! Ich lief schneller, hüpfte ein wenig. Hüpfte immer schneller, sprang auf und ab, bis ich immer schwerer atmete. Ich lehnte den Kopf an die Wand und merkte, wie mir die Tränen kamen.
Ich hatte es ja wirklich weit gebracht. Donnerstag nacht im Polizeigewahrsam, eingesperrt, frierend, durstig. Und auch schuldig. In diese Situation hatte ich mich selbst manövriert. Mildernde Umstände Fehlanzeige. Nur gewollt hatte ich das alles doch nicht. Ich wollte ja nur ein geregeltes Leben, keine finanziellen Probleme mehr, eine Zukunft. Nix großes. Nur halt ´ne Zukunft. Bescheiden, aber glücklich. Hatte ich ja sogar. Ganz kurz. Und jetzt das hier. Eine kalte graue Zelle, die nach Urin riecht. Glückwunsch, Philipp. Du hast es wirklich weit gebracht.
Es ärgerte mich, dass ich immer noch keine Vorstellung davon hatte, wie viel Zeit vergangen war. Davon abgesehen konnte ich auch kein Auge zumachen. Ich hab es versucht, ernsthaft versucht. Um müde zu werden, sagte ich in Gedanken Liedtexte auf. Das hatte zwei ganz angenehme Nebeneffekte: ich weinte nicht mehr und mir fielen tatsächlich irgendwann die Augen zu.
Ich träumte irgendwas von meiner Mutter. Ich kann das im Nachhinein nicht mehr genau wiedergeben, aber sie kam drin vor. Und das war schön. Ich fühlte mich leicht, als ich so döste und von ihr träumte. Mein Vater kam in meinen Träumen gar nicht vor, aber das störte mich nicht, er fehlte nicht. Auch so war in diesen kurzen Momenten alles leicht. Ich war frei. Und geborgen. Alles, was ich an diese Abend bisher erlebt hatte, war ausgelöscht.
Als ich die Augen wieder öffnete, war ich schlagartig wieder in der Realität. Irgendwo knallte eine Tür, ich hörte Männer lachen. Mit einer Hand berührte ich die kalte graue Wand. Ich las ein paar der Schmierereien. „ACAB“ stand da. Oder „BVB Hooligans 09“ oder „Jimmy was here“ oder „Scheiß Bullenschweine“. Aber meistens „ACAB“. Keine Ahnung, was das heißen sollte.
Das Licht war so unglaublich hell. Die Polizei wollte wohl absichtlich vermeiden, dass die Gefangenen schlafen. Aus welchen Gründen auch immer. Merkwürdige Foltermethode, dachte ich: jemanden fast ohne Klamotten in eine kleine kalte Zelle sperren. Fenster auf, Licht an. Dabei musste man mich ja nicht mehr foltern. Sie wussten alles von mir. In ihren Akten stand bestimmt, warum ich hier war. Die Sache mit den Zeugnissen. Die Verurteilung. Der Widerruf der Bewährung. Der Haftbefehl.
„Die Sache ist eindeutig, ihr könnt das Licht jetzt ausmachen“, wollte ich brüllen. „Und das Fenster zu. Und meine Klamotten könnt ihr mir auch wiedergeben.“ Jetzt mal bloß nicht durchdrehen, Philipp.
Mama war wieder da. Meine Mama. Ich sah sie im Traum lächeln. Ich weiß nicht, wo sie stand, aber es war hell um sie rum. Hell und schön. Hinter sah ich schemenartig andere Menschen laufen, ich konnte sie sogar leise lachen hören. War mein Neffe dabei? Oder mein Freund? Mein Vater? Ich konnte es nicht sehen. Aber es war trotzdem gut. Alles war gut.
Ich öffnete die Augen und sah wieder nur „ACAB“. Nichts war gut. Ich schlug die Decke zurück und stand auf. Ging wieder ein bisschen hin und her. Als ich mich wieder auf die Matratze legte, merkte ich, dass ich pinkeln musste. Und wie. Lag das an der Kälte? Kann mir schon vorstellen, dass es auf die Blase schlägt, wenn man an einer kalten Wand liegt. Ich stand wieder auf. Die Toilette hatte ich bisher vermieden. Es gab keine Brille und keinen Deckel, gewissermaßen nur das Loch. Ich bin ja Sitzpinkler, aber das interessierte hier vermutlich niemanden. Ging dann auch im Stehen. Aber es war… unangenehm. Nicht, dass ich für so was grundsätzlich zu fein oder so bin – aber ich hätte schon gerne eine Möglichkeit gehabt, meine Hände zu waschen. So ein Waschbecken fehlte mir auch in der Hinsicht, dass ich gerne mal einen Schluck zu trinken gehabt hätte.
Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen. Das helle Licht der Glühbirne konnte ich nicht ignorieren, aber ich konnte meine Augen fester zupressen. Zupressen und an was Schönes denken. Ich dachte an meinen Freund. An schöne Erlebnisse, unseren letzten Urlaub, unseren letzen Spaziergang im Park, an fallende Herbstblätter, an Fußball, Freunde. An mein Bett. Und am Ende dachte ich doch immer wieder an meine Mutter. Es war wie eine kleine Flucht. Und wenn ich die Augen aufmachte, war mir immer sofort wieder klar: „Ich kann hier nicht mehr weg. Es gibt kein Zurück.“ Ich war gefangen. Und ich hatte Angst. Ja, immer noch Angst, die kleinen Träume und schönen Gedanken zwischendurch konnten mich nicht davor beschützen, Angst zu haben. Ich probier ja auch wirklich gerne jeden neuen Mist aus, aber was zu weit geht, geht zu weit. Und Gefängnis musste ich nun echt nicht haben.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was mich im Gefängnis erwartet. Es gelang mir nicht. Alles, was ich über den Strafvollzug wusste, wusste ich aus dem Fernsehen. Das war nicht viel. Freiheitsentzug. Was für ein Wort. Ich glaub, ich kann mich an neue Situationen ganz gut anpassen, ich gewöhne mich recht schnell. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich auf das Gefängnis reagieren würde. Auf den Freiheitsentzug. Irgendwie bedrückend.
Andererseits: es war jetzt auch die Zeit vorbei, wo ich mir zu Hause Gedanken darüber machte, wann die Polizei kommt, um mich abzuholen. Der Haftbefehl kam ja schon vor einigen Tagen an. Ich hab natürlich versucht, Widerspruch einzulegen. Das war dann auch das erste Mal, dass ich einen Anwalt anrief. Ich brauchte ja vorher nie einen, nicht so wirklich. Und bevor der Haftbefehl in meinem Postkasten lag, war für mich die Situation auch überhaupt nicht bedrohlich. Was interessierte mich denn der Widerruf der Bewährung? Leg ich doch sofort mal Widerspruch ein. War schon ziemlich arrogant. Der Anwalt, den ich anrief, bestellte mich in sein Büro. Ich brachte alle Unterlagen mit, er wollte für eine Beratung 250 Euro haben, dann könnte er vielleicht den Haftbefehl aufschieben. Soviel Geld hatte ich nicht. Er riet mir, mich selbst zu stellen, in Castrop-Rauxel. Das sei Offener Vollzug. Ich hörte nicht mehr hin und ging nach Hause. Danach verging noch eine Woche, bis sie kamen, um mich festzunehmen. Ich traute mich nicht, mich zu stellen. Irgendwie hoffte ich sogar, sie würden mich vergessen. Oder den Haftbefehl wieder aufheben. „Tut uns leid, Herr Stenzel, nur ein Versehen.“ Ich lauschte auf Geräusche im Treppenhaus und beobachtete, welche Autos in der Straße vor meinem Haus parkten.
Als sie heute kamen, rechnete ich nicht mehr mit ihnen. Jedenfalls nicht um diese Uhrzeit. Meine Güte, war ich naiv. Ich hätte mich echt selbst stellen sollen.
Nein, vorher. Ich hätte schon vorher was machen müssen. Ich hätte mir direkt bei der Androhung zum Bewährungswiderruf einen Anwalt… ich hätte mal jemanden einweihen sollen, um mir Hilfe zu holen. Meine Eltern vielleicht oder meinen Freund. Warum hab ich das bloß alles nicht getan? Scheiße, war ich blöd. Und so unselbständig. Und so arrogant, dass ich immer dachte, ich sei völlig selbständig und könnte eigenmächtig den gesamten Justizapparat der Bundesrepublik lahmlegen. Gerechte Strafe also, dass ich hier bin. Allein schon wegen grenzenloser Bescheuertheit. Bravo, Philipp Stenzel. Bravo. Über diese Gedanken dämmerte ich wieder ein.
Mein Hals war ganz trocken, als ich wieder aufwachte. Und mir machte es jetzt doch immer mehr zu schaffen, dass ich nicht wusste, wie die Zeit verging. War schon morgen? Oder noch nachts? Ich drehte meinen Kopf zum Oberlicht. Die Milchglasscheibe schimmerte hell. Aber schon die ganze Zeit, erinnerte mich. Ich konnte also daraus nicht schließen, ob es schon Morgen ist. Oder wann Morgen ist. Oder ob überhaupt nochmal Morgen wird.
Ich studierte noch ein paar Schmierereien an den Wänden. Die Leute kamen auch aus Bochum oder Essen, um sich hier zu verewigen. Es gab sogar einen Aufkleber in meinem Blickfeld, „Essen Ultras“ stand drauf. Ich fragte mich, wie die Leute hier an Stifte kamen, um hier was draufzumalen. Einer hatte sogar noch einen Aufkleber gehabt und mir hat man meine Jogginghose abgenommen.
Ich hatte schon wieder das Gefühl, pinkeln zu müssen. Es ist die Wand, kein Wunder, dachte ich erneut und beschloss, die Matratze von der Wand wegzurücken. War nicht viel Platz in dem schmalen Raum, aber ich lag immerhin nicht mehr direkt an der Wand. Hätte ich mal eher drauf kommen können. Jetzt noch was zu Trinken und es wäre nicht mehr völlig scheiße, dachte ich. Ich musste fast ein wenig grinsen. Zumindest war doch nun die eine Anspannung von mir abgefallen. Es war ja auch ein beschissenes Gefühl, dass ich meiner Familie nichts erzählt habe. Ich wollte sie nicht belasten. Und jetzt würde ja sowieso alles rauskommen. Das war schon irgendwie befreiend. Bitte verzeihen Sie dieses unpassende Wort, aber Sie verstehen vielleicht, was ich meine?
Ich hörte wieder Geräusche aus dem Flur. Schritte, die näherkamen. Und dann öffnete sich die kleine Klappe in der Tür. Freiwald.
„Herr Stenzel. Kommen Sie doch mal.“
Ich richtete mich langsam auf. War grad wieder bei Mama.
„Und los jetzt.“
Ich ging zur Tür. Würde er mich jetzt rauslassen? Ich war grad mutig genug, genau das zu fragen. Freiwald schien das nicht so lustig zu finden.
„Sie müssen hier noch ein paar Dinge unterschreiben.“
„Was denn?“
„Dass wir sie festgenommen haben und sie morgen in die JVA überstellen.“ Ich nickte. „Und dass Sie sich geweigert haben, an der erkennungsdienstlichen Untersuchung teilzunehmen.“
„Ich hab doch gesagt, dass wir das machen können.“
„Aber doch jetzt nicht mehr. Ich hab Feierabend.“
Ich unterschrieb. Beide Formulare dreifach. Freiwald nahm die Formulare und seinen Stift wieder an sich
„Schönen Abend noch“ (So, da haben Sie´s. Es klang zynisch.)
„Moment bitte. Wie geht´s denn jetzt weiter.“
„Morgen früh um acht bringen wir Sie in die JVA. Bis dahin bleiben Sie hier.“
„Kann ich was zu trinken bekommen?“
„Morgen früh.“
Freiwald machte die Klappe wieder zu. Ich legte mich wieder hin. Ich werde in die JVA überstellt. Ich fand, das war ein seltsamer Gedanke. Nicht wirklich, irgendwie. Ich stand noch ein bisschen am Fenster (gut, das ist jetzt übertrieben, das Oberlicht war ungefähr eineinhalb Meter über meinem Kopf) und legte mich dann wieder hin.
Ich muss wohl tatsächlich etwas länger geschlafen haben. Ich erwachte jedenfalls davon, dass erneut die Klappe in der Tür aufging. Ein Beamter fragte mich, ob ich frühstücken wolle. Ich wollte nicht. Ich frühstücke nie.
Ich fuhr hoch. Scheiße, ich war noch zu verschlafen, ich hätte verdammt nochmal gerne was zu essen haben wollen. Und was zu trinken. Immerhin hatte ich jetzt eine ungefähre Ahnung, wie spät es war.
Als ich das nächste Mal erwachte, stand die Tür ganz offen, ein Beamter, den ich vor meinem Einschluss noch nicht gesehen hatte, befahl mir aufzustehen, die Decken zusammenzufalten und die Matratze wieder an die Wand zu rücken.
„Es geht los. Kommen Sie.“